Ich - der Augenzeuge
hoher Stimme den Redner mit dem dünnen, schrillen Ruf Freiheit unterbrach. Es dauerte keine zehn Sekunden, und ein paar stämmige, hochgewachsene Männer mit jenem Ausdruck in den Augen, wie ihn meine Kameraden und wohl auch ich bei den Stürmen auf die Gurkhas gehabt hatten, stürzten sich auf den armen kleinen Wicht, trommelten ihm den Kopf auf die Erde, hieben ihm das Gesicht blutig, nahmen ihn wie eine Feder auf und schleuderten ihn im wahrsten Sinne die Treppe hinab. Die anderen machten ›die Gasse‹. Der Redner aber auf der Tribüne hatte sich nicht unterbrechen lassen, er kannte uns und seine Leute. Es war seine Leibgarde, ein Haufen von gefährlichen und rohen Menschen, die, wie ich wußte, oft genug fremde Versammlungen, demokratische, kommunistische, katholische mit brutaler Gewalt, Totschläger in der Faust, gesprengt hatten. Sie beteten wie Wilde ihren Götzen an, schlugen ihr Leben in die Schanze, sie waren sein sicherster Schutz. Sie nannte er ›die treuen Kameraden‹, die Gegner waren ›Banditen‹. ›Ein entschlossener Bandit soll es also jederzeit in der Gewalt haben, mir, dem anständigen Menschen, seine politische Betätigung unmöglich zu machen?‹ hatte er früher zu Hauptmann R. gesagt. R. hatte gelächelt. Er hörte H. geduldig zu, wenn dieser von ›marxistisch-jüdischen‹ Untermenschen mit fanatischem Haß sprach, dabei aber zugab, niemals Marx gelesen zu haben. Er sagte, ihn leite sein Blut, das deutsche Blut. Es könne nie irren. Er könne nie irren.
Ich wußte, was er war, ich war sein Augenzeuge, sein Erwecker gewesen, ich war der erste Wundertäter an diesem Wunderwesen – und dennoch bin ich ihm unterlegen. Es sind diesem Mohammed ohne Gott 70 Millionen Menschen unterlegen, warum soll ich mich rühmen, stärker gewesen zu sein als sie? Ich merkte an den Gesichtern rings um mich, an den gespannten aufgewühlten Zügen, an den bebenden Gliedern der Angelika, daß der Höhepunkt noch nicht erreicht war, aber in den nächsten Sekunden kommen mußte. Nach einem ungeheuerlichen, unfaßbaren Haßerguß gegen die ›marxistische Judenbrut‹ kam es über ihn und über uns. Es war der Augenblick, wo der Redner mit seiner heiseren Stimme, seinem österreichischen Akzent plötzlich den Boden unter den Füßen verlor. ›Deutsches Blut! Deutsches Blut! Deutsches Blut!‹ schrie er, man wußte nicht, ob in Liebe zu diesem Blut oder in Angst um dieses göttliche Blut. Wußte er es denn selbst? Er sprach in Zungen. Es überwältigte ihn, es überwältigte uns, und wir waren nicht mehr die, die wir früher waren. Vielleicht, wäre ich allein mit ihm gewesen und hätte er die gleiche Ekstase in dem Untersuchungsraum von P. gehabt, ich hätte ein kalter Augenzeuge bleiben können. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Hier aber nicht. Es sprang von Mann zu Mann, dreitausend wurden eine Seele. Von oben nach unten, von einem Winkel des Raumes zum anderen. Unwiderstehlich, mit Blitzesschnelle, ein ungeheurer Katarakt, das entfesselte Element. Er stand nicht mehr oben auf der roh zusammengezimmerten Tribüne, er war neben uns, in uns, in dem Verborgensten wühlte er umher, und er zermalmte uns mit seinem sklavischen Wollustglück, gehorchen, sich auslöschen, unten sein, nichts mehr sein. Zum erstenmal habe ich begriffen, was es heißt, Weib sein und dem Mann, der das Weib zuerst gegen ihren Willen und dann plötzlich mit ihrem Willen, mit ihren brennenden Schmerzen, mit noch tausendmal mehr brennender Wollust zersprengt, unterliegen, in ihm aufgehen, mit ihm zusammenwachsen, als ob es auf ewig wäre. Ist Liebe also nur Knechtschaft, Knechtseligkeit? Er stand dort oben, schluchzte, er schrie, gurgelnd brach etwas Unerklärliches, Urhaftes, Nacktes, Blutiges aus ihm heraus, er konnte es nicht halten, es waren keine fest gebauten Sätze mehr, keine artikulierten Worte, die Unterseele, die immer verhüllte, der schwarze heiße Ort der Mütter war nach oben gedrungen, und niemand konnte widerstehen. ›Deutschland! Deutschland! Deutschland!‹ Was war die klägliche Übermacht des im Kampf gegen den Tod hilflosen Arztes gegen die seine? Seine Übermacht war Haß, Wut, Ekstase, Ausbruch, Kampfgeheul, bloß ganz in der Ferne, ein Regenbogen nach dem Gewitter, schien ein hellerer Raum, sein blasses, blumiges, wohlgesittetes Ideal von einem neuen keuschen und schwertfrohen Deutschland, der sentimentale Abgesang nach dem brutalen Haßgesang. Alle atmeten auf. Die Wände zitterten vor Beifall, und die Hymnen
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