Ich - der Augenzeuge
sondern zum drittenmal. Zum erstenmal war er mir im Lazarett von P. entgegengetreten. Einer gegen einen. Das zweitemal in der Mannschaftsstube, er auf der einen und eine dichtgedrängte Menge von Soldaten und Reichswehroffizieren auf der anderen Seite. Jetzt sah ich ihn aber zum erstenmal in der Masse, einer gegen dreitausend. Er stand über der Masse, denn er war gänzlich unberührt von ihr, sie imponierte ihm jetzt so wenig wie früher. Er verachtete sie. Sie dagegen war vollständig unter seiner Faszination.
Er hatte die Gewohnheit, nur abends zu sprechen. Dann waren die Zuhörer abgearbeitet, nicht widerstandsfähig, sie wollten im Wachen schlafen, träumen, sich berauschen lassen, ihn anbeten, blind gehorchen, vom Geist besessen sein. Er ließ kaum einen kalt, denn er berauschte sich selbst. Er zeigte es allen, wie herrlich es ist, von einer einzigen mächtigen irdischen Idee besessen zu sein. Selbst Menschen wie ich, die skeptisch und mit der ärztlichen Diagnose in die Versammlung gekommen waren, verfielen ihm. Nur für Augenblicke, aber vollständig überwältigt. Das wollte er, damit erfüllte man seine Erwartungen. Diese Freude mußte man ihm machen. Sein Gefühl wirkte auf unser Gefühl.
Sein Instinkt, nicht sein Bücherwissen, hatte ihm verraten, wie ein einziger Macht bekommt über alle, wie einer oben spricht und die anderen unten lauschen, Herr über Knechte, ein Magier, ein Despot, ein Zauberer und grausamer, harter Priester in einem.
Aber war er denn selbst ein so starker Mensch, daß es unsereinem, Mann wie Weib, mir, dem Augenzeugen, dem objektiven, erfahrenen Arzt ebenso wie Angelika, der schmerzsüchtigen Sklavin, süß war, seine Faust zu spüren und ihm zu unterliegen? Hatte er in der höchsten Gefahr sich bewährt und war Mann geblieben? Hatte er, einem Mann wie Rathenau gleich, dem Schicksal einen heroischen Aufruf zur verzweifelten Gegenwehr entgegengeschleudert? Hatte er sich nicht vielmehr vor den Tatsachen versteckt, war von der Front ›gewankt‹, hatte sich feig hinter seine Blindheit, hinter seine Hilflosigkeit verkrochen, bis wieder bessere Zeiten gekommen waren und die Reichswehr ihm die Zunge gelöst, in ihm das heilige Feuer entfacht, ihn unter ihre Fittiche genommen hatte?
Nichtige Erwägungen meines Gehirns, nichtiger Widerstand meines Willens.
Er sprach, ich unterlag. Er redete uns nieder, Kluge und Törichte, Mann und Frau, alt und jung. Er ließ es nicht enden, viertelstundenlang, halbe Stunden lag, drei, vier Stunden lang das gleiche, nie etwas anderes, ewig im Kreise, er bohrte, bis er ins Tiefste gedrungen war. Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal wiederholte er es, und doch war es ihm nie genug!
Nach einer Viertelstunde troff er vor Schweiß, sein Halskragen klebte ihm als nasser Fetzen am Halse, an der Stirn waren die Adern geschwollen, er zitterte wie im Fieber, mit großartigen Gesten drohte, lockte, beschwor er uns unten, die Haarlocke hatte er wie in P. wüst in die Stirn geschmissen, und immer noch endete er nicht, und niemand wollte es, daß er schon ende. Man zitterte vor Erwartung vor etwas Ungeheurem, und ich, an Angelika eng angeschmiegt, zum erstenmal seit langer Zeit, merkte schaudernd, daß ich zitterte wie alle und daß ich ein Atom der Masse geworden war.
Ich war gewarnt worden. Mir hatte Kaiser erzählt, wie es in H.s Versammlungen zuging.
H. hatte von vornherein das abgewiesen, im Bewußtsein seiner Übermacht, was die anderen Parteien, unter ihnen die unsrige, brauchten: die Polizei als Saalschutz. Er sagte sich mit Recht, die Massen, auf die allein es ihm ankam, würden darin ein Zeichen seiner Schwäche sehen. Er war der Herr, er hatte das Herrenrecht. Er hatte recht. Er war das Recht. Des Teufels war, wer anders zu denken wagte als er. Er rühmte sich dessen, wie sich ein Hauptmann R. seines Herrenrechts gegenüber der schwachen Weimar-Republik rühmte, ›wir haben dieses Herrenrecht ununterbrochen, in jeder Minute schärfstens betont. Unsere Gegner wissen genau, daß, wer jemals provoziert, unnachsichtig hinausfliegt‹. Dies war sein Grundsatz. Die Form war banal, die Sprache ordinär, aber es war keiner, der sie nicht verstand. ›Jeder Störungsversuch würde von meinen Kameraden sofort im Keim erstickt. Die Unruhestifter fliegen mit zerbeulten Köpfen die Treppe hinunter.‹
Gleich zu Beginn dieser Versammlung erlebte ich es (und ohne daß ich zu mucksen wagte), daß in einer Ecke ein kleines mageres Männchen mit krähender
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