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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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Stücken horchten sie Telefongespräche ab, durchsuchten Briefe und Pakete und schämten sich nicht, die Verräter und Henker der Menschen zu werden, die mit ihrer beruflichen Ehrenhaftigkeit gerechnet hatten und von denen sie lebten.
    Meine Frau atmete auf, als die Papiere aus dem Hause waren. Sie bewog mich, meinen Paß erneuern zu lassen, der auf die ganze Familie lautete, und außerdem einen Spezialpaß für sie allein ausstellen zu lassen und etwas Geld aus meinen Ersparnissen in der Schweiz zu deponieren.
    Dies alles war in den ersten Monaten nach der Machtübernahme H.s noch leicht möglich und erlaubt. Die furchtbare Knechtschaft, die er nachher Schritt für Schritt unter dem Schweigen, ja, unter dem Beifall der Massen verbreitete und die bald jedes Maß überstieg, das Despoten der Vorzeit zur Knebelung jeglicher Freiheit angewandt hatten, ahnte damals noch niemand.
    In diese Zeit fiel ein anonymer Brief, der mich warnte. Nun habe ich anonyme Briefe niemals ernst genommen und hatte meine besonderen Gründe dafür. Meine Frau hatte kurz nach dem Tode meiner Mutter einen anonymen Brief erhalten, worin ihr geschrieben wurde, sie solle sich ja keine Hoffnungen auf mich machen, ich hätte meiner Mutter auf dem Sterbebett versprochen, keine Jüdin zu heiraten. Diese anonyme Nachricht hatte unglücklicherweise meine arme Frau dazu bewogen, mir durch Jahre eine kalte abweisende Miene zu zeigen, sich mit Gewalt von mir fernzuhalten, bis wir uns endlich doch am Totenbett ihres Vaters ausgesprochen haben. Ich kann mir nur eine Person denken, welche diesen Brief geschrieben haben kann, Angelika, die unsere Ehe verhindern wollte. Welches Interesse konnte sie aber jetzt daran haben, mich zu veranlassen, unverzüglich ins Ausland zu gehen? Ich dachte an Helmut, aber Helmut ging geradeaus und hätte einen anderen Weg gefunden. So ist er später zu uns gekommen, und ihm verdanke ich, daß ich lebe. Es war, wie ich später erfahren habe, niemand anderer als jener unfähige Arzt mit den Kriegsprüfungen, von dem mir vor Jahr und Tag der Geistliche von S. erzählt hatte, daß er händeringend am Bett einer Frau im Wochenlager gesessen habe, die er so unwissenschaftlich umgebracht hatte. Er war noch in der Gegend, in der kleinen Stadt T., ein fanatischer Anhänger H.s, ein Arzt, der nichts dazulernte, nicht umlernte, nicht an sich zweifelte und dessen Patienten mir zuströmten. Oft wies ich sie ab, sie ließen sich aber in ihrer Angst um Gesundheit und Leben nicht abhalten, und ich konnte es nicht verhindern, daß sie sich mir gern anvertrauten, ihm aber ungern. Er wollte mich forthaben. Er wußte, es lag gegen mich manches vor, aber nichts gegen das geschriebene Gesetz.
    Im Chaos der entfesselten Leidenschaften gab es kein Gesetz mehr. Es gab keine Freiheit mehr, keine ordentliche gerichtliche Prozedur, die das Interesse des Staates und des Angeklagten in gleichem Maße vertrat, Objektivität, Gerechtigkeit, Freiheit waren nicht mehr.
    Er hat es sogar sehr gut mit mir gemeint. Ich fühlte aber mein Gewissen rein, und die Gefahr muß mich gereizt haben wie damals, als ich als Kind in die Au-Kaserne eindrang ganz ohne Ziel und Zweck, im Drang, eine Gefahr zu bestehen und um mir von einem blöden Pferd die Rippen zertrümmern zu lassen, dem ich nichts Böses zutraute. War ich doch mit Brot in der Hand gekommen.
     
    Eines Tages im Sommer 1913 kam mein Vater spät abends und sagte, er müsse unter vier Augen mit mir sprechen. Er liebte meine Frau nicht, schon deshalb, weil er, ein überzeugter Nationalsozialist, in ihr die Jüdin sah, aber er hatte Großvatergefühle für seinen Enkel und seine Enkelin. Meine Frau wollte bei der Unterredung dabei sein, und sie hatte ein Recht darauf. Aber ich wollte ihm nicht widersprechen, denn sonst wäre er gegangen. Das wollte ich nicht und bat sie, uns allein zu lassen. Er nahm mich also auf die Landstraße hinaus, wo mit abgeblendeten Lichtern noch mein kleiner Wagen stand, und wir gingen ein paarmal den Weg am See entlang, der von meinem Haus bis nach T. führt, hin und zurück, vermieden aber, den Weg nach S. zu nehmen, wo wir viel mehr Bekannte hatten als in T.
    Er machte nicht viel Worte. Er sagte mir, er wisse aus bester Quelle, man werde demnächst bei mir eine Hausdurchsuchung vornehmen, man werfe mir die Ehe mit der Jüdin, meine Mitgliedschaft bei der Deutschen Friedensgesellschaft, meine liberalen Reden in der (längst aufgelösten) Demokratischen Partei vor. Aber ich sei in der

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