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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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Gegend als Arzt allgemein beliebt, ich hätte sogar in der Partei Fürsprecher. Seine Frau und selbst Angelika hätten alles mögliche für mich getan, und ich verdanke es ihnen und meinem Kameraden Helmut, daß man mich in Ruhe gelassen habe. Andere, denen weit weniger vorzuwerfen wäre, seien in Konzentrationslagern.
    Nun gab es seit dem Antritt H.s als Reichskanzler, Führer der Partei und Diktator des ganzen Reiches in allen Gegenden des Landes Konzentrationslager in alten Fabriken, verlassenen Militärbaracken, auf leerstehenden verfallenen Burgen. (Auf einer solchen Burg hatten einst die zwei jungen Rathenaumörder durch Selbstmord geendet, und heute erklärte man sie zu Nationalheroen und pilgerte mit Kränzen zu ihrem Grab, einem nationalen Heiligtum.) Man führte die Lager als ›Staatsnotwendigkeit‹ ein unter der humanen Begründung, man wolle Menschen, die sich vor der ›Machtübernahme der Partei‹ mißliebig gemacht hätten, vor dem gerechten Zorn des Volkes schützen und ihnen das Leben retten. Es war die Sicherungshaft ohne Justizverfahren, ohne Staatsanwalt und Anklage, wie man sie als Staatsnotwehr im Kriege gekannt und damals gegen Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht angewandt hatte. Es bedurfte zur Einlieferung in ein solches Lager keines Gerichtsbeschlusses, es genügte die Polizei. Es gab keinen Verteidiger, weil es keine Anklage gab. Die Lager waren mit Stacheldraht umgeben, der hohe, sofort tödliche elektrische Ströme führte. Sie waren von Mauern umgeben, von Maschinengewehren geschützt, ein Wachtturm erlaubte eine ununterbrochene Überwachung des Lagers. Hinter den Stacheldrähten lebte eine große Anzahl Menschen, von ein paar Hundert bis zu Zehntausenden, hermetisch von der Umwelt abgeschnitten. Man erzählte sich flüsternd grauenhafte Berichte über die Behandlung der Gefangenen. Ich hatte sie bis dahin nicht glauben wollen. Ich fragte meinen Vater danach, der als guter Nationalsozialist ein solches Lager besucht und sogar zeitweise Hilfsdienste dort geleistet hatte.
    Er antwortete mir nicht, faßte nur meinen Arm, und zwar so fest, daß er mir weh tat, und sagte mir endlich, darauf komme es nicht an. Ich solle nicht abwarten, bis meine Feinde meiner Freunde Herr geworden wären. Man lebe besser in der Schweiz als im Lager, das sei seine bescheidene Meinung. Auf alle Fälle steckte er mir ein Banknotenbündel von Schweizer Scheinen zu, die er noch aus den Zeiten des Weltkrieges gespart hatte. ›Nun, im Dritten Reich brauche ich das Geld nicht mehr‹, sagte er. ›Wie schade, daß du dieses Judenweib geheiratet hast! Verzeih das harte Wort, es trifft ihre Rasse, nicht sie persönlich, sie kann ja nichts dafür. Warum hast du deiner Mutter nicht gehorcht? In diesem einen Punkt hat die bigotte Bißgurne – sei mir nicht böse, wenn ich so spreche, aber sie hat mir mein ganzes Leben versauert und dir das deine auch –, in diesem Punkte hat sie dir doch gut geraten. Aber geschehen ist geschehen. Viktoria ist in ihrer Art eine Ausnahme. Sie hat nicht die Judenfarbe, sondern ist blond wie Gretchen. Vielleicht ist sie eine Bankertin und hat ein paar Tropfen anständiges Blut, und deine Kinder wären dann nicht Halbjuden, sondern nur Vierteljuden. Was ich tue, und ich tue und riskiere ungeheuer viel, tue ich aber nur deinetwegen. Du hast meine unscheinbare Art immer mißachtet, nun siehst du, ich und Heidi und Angelika sind dort, wo es richtig ist. Wir sind zünftig, und bei euch sieht es anders aus. Nun höre meinen Rat. Du fährst noch heute mit deinem Wagen in die Schweiz zur Erholung. Das ist erlaubt. Jeder hat seine Freiheit im Dritten Reich, das weißt du. Am besten, du kehrst vorerst gar nicht nach Hause zurück. Du fährst allein, deine Frau kommt dir nach. Ihr trefft euch in Basel oder sonst in der Schweiz, und ich schreibe dir poste restante, ohne Unterschrift, denn du kennst meine Schrift. Ich gebe dir Nachricht. Die Kinder laßt bei mir, Heidi wird sie betreuen. Es ist ja eigentlich doch auch mein Blut, und ich bürge dir für sie. Warte ab. In ein paar Monaten oder Jahren ist vielleicht mehr Ruhe eingekehrt im Lande, und wenn ihr euch still haltet, nicht mehr muckst und eurer Arbeit zünftig nachgeht, wird man euch anderen kein Haar krümmen. Du sollst übrigens Papiere über den Führer haben? Ich kann es nicht glauben. Du bist viel zu klug, um etwas Kompromittierendes bei dir zu behalten, und es wäre Wahnsinn, sie in die Schweiz mitzunehmen, denn das weißt du gut, unser Arm

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