Ich - der Augenzeuge
meine Frau und meine Kinder im Stich lassen.
Ich packte in Eile und stürzte so schnell aus dem Hotel, daß ich versäumte, das Zimmer zu kündigen, über den Wagen in der Garage eine Verfügung zu treffen und meine Abreise dem Portier zu melden.
Nun ist mir etwas wirklich Tragikomisches begegnet. Ich hatte ein offenes Taxi genommen und fuhr in schnellem Tempo zur Bahn. Als ich in die Bahnhofsgegend kam, sah ich ein anderes offenes Taxi entgegenkommen, ebenfalls in schnellem Tempo, und in diesem saß – meine Frau. Ich schrie auf und winkte, gerade als die beiden Wagen aneinander vorbeifuhren. Aber die Frau blickte nicht auf, wandte sich nicht um. Sie konnte doch meine Stimme im Augenblick nicht überhört haben? Die Erklärung war viel einfacher, und ich hätte sofort daraufkommen können: Erstens war das Gehör meiner Frau durch die Mittelohrentzündung geschwächt, zweitens hatte sie Watte im Ohr, drittens war sie nicht darauf gefaßt, meine Stimme im Straßenlärm zu vernehmen. Das, was die einfachste Überlegung war, was die klare logische Vernunft mir hätte eingeben müssen, war, den Wagen umkehren zu lassen, unverzüglich ins Hotel zurückzukehren und mich dort zu überzeugen, ob es wirklich meine Frau war, die ich gesehen hatte. Aber ich wollte es nicht glauben. Ich konnte die Kraft zu dem glücklichen Glauben nicht aufbringen. Ich war glaubenslos geworden, und in diesem wichtigsten Augenblick rächte es sich an mir. Meine Mutter hatte recht gehabt.
Ich setzte meine Fahrt fort, ließ den skeptischen Psychiater in mir sprechen, der bei sich selbst die Diagnose stellte, es sei eine Halluzination, ein Wachtraum, ein Wunschtraum gewesen, der mir meine Frau hier vorgespiegelt hatte, während sie in einem der Gefängnisse der Geheimen Staatspolizei war. Der nächste Zug nach Deutschland ging in zwölf Minuten. Ich löste das Billett, aber vorher rief ich nun doch, ohne an ein gutes Geschick zu glauben, das Hotel an. Ich fragte: »Ist keine Dame gekommen, die mich sprechen wollte?« – »Nein, Herr Doktor, niemand ist gekommen.« Nun hat es, wie ich später erfahren habe, der unglückliche Zufall oder das Schicksal gefügt, daß meine Frau den gleichen Gedanken gehabt hatte wie ich, nämlich – Blumen zu kaufen. Dies hatte sie ein paar Minuten aufgehalten. Und so trat sie im gleichen Augenblick über die Schwelle des Hotels, in welchem ich den Expreßzug bestieg, der mich nach Deutschland zurückbrachte.
In M. nahm ich einen Wagen und fuhr nach Hause. Mein Haus war verlassen, die Siegel angelegt. Das erste war, meinen Vater aufzusuchen. »Was tust du denn hier?« rief er mir erblassend zu, und selbst Angelika zitterte vor Schrecken. »Warum sind Sie nicht in Bern geblieben?« flüsterte sie. »Wo ist meine Frau?« fragte ich. »Sie ist längst fort«, antwortete Heidi. Ich hätte gern noch meine Kinder gesehen und wartete auf sie, als ein paar SS-Männer in ihren schwarzen Uniformen ins Zimmer traten, die zwei Frauen höflich grüßten, auf mich zukamen, mich in ihre Mitte nahmen und mich bei meinem Namen ansprachen. Ich ging und begegnete den Kindern, denen man nicht mehr erlaubte, mir einen Kuß zu geben. Die SS nahm mich in einem riesigen neuen Mercedeswagen nach München mit. Die Fahrt, die ich vorhin im Verlauf einer Fünfviertelstunde in einem klapprigen Taxi zurückgelegt hatte, machten wir jetzt in etwas über dreißig Minuten.
Sie gaben mir auf meine Fragen keine Antwort. In M. lieferten sie mich im Polizeipräsidium ein, und ich bekam eine Einzelzelle, nachdem man mir meine Papiere, Geld, Uhr, Paß, Schlüssel, auch den neuen zum Safe, Schnürsenkel und Hosenträger weggenommen und mich von oben bis unten visitiert hatte bis zu der Brandsohle in meinen Halbschuhen, als hätte ich hier etwas Wichtiges verstecken können. Ich verbrachte eine Nacht, die ich nicht zu schildern vermag.
Ich werde auch die nun kommende Zeit nur in ganz kurzen Zügen berichten können. Es gibt Erlebnisse, die so fürchterlich sind, daß man unter Anspannung seiner ganzen Energie vielleicht die Kraft aufbringen kann, sie zu erleben, wenn man eben muß. Die Kraft aber, sie in ihrer ganzen Grauenhaftigkeit nochmals im Geiste darzustellen, wozu einen niemand zwingen kann, sie fehlt mir. Wenigstens heute bin ich dazu nicht im stande.
In den nächsten Tagen begann die Marter mit geistigen Peinigungen. Man verhörte mich, ununterbrochen, stundenlang, fast tagelang. Die Ankläger lösten sich ab. Wenn sie nicht mehr
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