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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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Es war nicht einer, der schlug, es waren ihrer mehrere. Nachher erfuhr ich, es waren ihrer meist drei. Sie taten es im Takt, im Sprechchor. Ich hörte. Wenn ich die Finger in die Ohren steckte, hörte ich es noch deutlicher. Es schwoll an, und kein Ende des Jammerns. Ich dachte nur an eins, sie sollten aufhören, sie sollten aufhören nebenan. Es war besser, sie kamen zu uns, zu mir! Wenn sie mich umbrachten, war es mein Schicksal. Mit Willen wollte ich mich nicht ergeben. Ich wollte aushalten. Aber an mir, an meiner Haut wollte ich das Schauerliche herunterleben, nicht an meinem Ohr und an dem tobenden Schlag meines Herzens. Aber was vermochte ich mit aller meiner Spartanerkraft gegen das würgende Ekelgefühl, das unwillkürliche Zittern, gegen die Darmkrämpfe, gegen die Harnflut, die ich nicht zu beherrschen vermochte. Während ich in einer Ecke meine Notdurft verrichtete, steigerte sich das Jammerschreien nebenan zu einem fessellosen tierischen Geheul. Es war schauerlicher als das Heulen des Tigers. Es war schauerlicher als die Schmerzensschreie der Menschen, die in den Stacheldrähten der Westfront an ihren oft leichten Wunden einen furchtbar langen und schmerzzerrissenen Tod starben, weil ihnen niemals jemand unter dem Kugelregen nahezukommen vermochte. ›Hören sie denn gar nicht mehr auf?‹ Dieser Gedanke war jetzt der einzige. Selbst jener andere, den ich mir vorher so gut eingehämmert hatte, verschwand daneben.
    Jetzt hörten sie auf. Vielleicht konnte das Opfer nicht weiter. Es stöhnte nur und rollte dumpfe Töne. Es war aber noch unmenschlicher anzuhören als der spitz durchbohrende Aufschrei von vorhin. Noch ein Schlag zischte durch die Luft. Aber jetzt hatte das Opfer nebenan keine Kraft mehr zum Schrei und keine zum Stöhnen, es war still, die Schläger fluchten und husteten, vielleicht war es mit ihm zu Ende. Jetzt traten sie ein, ein Mann mit einer Laterne ging ihnen voran. Sie hatten jeder einen Ochsenziemer in der Hand, das dicke Ende in der Faust, das dünne mit den letzten Wirbeln schwirrte probeweise durch die Luft. Aus der Nebenzelle hörte man, wie sich der Mann wieder regte, er röchelte, und die hölzerne Bettstelle knarrte unter ihm, er wälzte sich hin und her. Jetzt kam die Reihe an mich. Ich dachte zuerst, sie würden mich ausfragen, sie würden versuchen, durch Angst etwas aus mir herauszupressen. Ich war froh, wenn man in einer solchen Lage von froh sprechen konnte, daß sie es nicht taten.
    Ich kann nicht sagen, daß sie entmenschte Gesichter hatten. Sie waren abgearbeitet, sie schwitzten, aber es war, wie wenn sie Holz gehackt hätten. Tatsächlich war es ihre Arbeit. Sie selbst unterlagen einer harten Disziplin. Hätten sie sich geweigert, man hätte an ihnen getan, was sie an anderen zu tun hatten. ›Leg dich hin, los!‹ sagte der mit der Laterne zu mir. Er hatte das Licht auf den groben Wandtisch gestellt und betrachtete mich mit einer Art wüster Neugierde. Ich wollte mich hinlegen, aber etwas sträubte sich in mir dagegen. Ich wäre lieber stehend geprügelt worden. Es war fürchterlich, wie schwer es mir wurde, mich selbst zu bezwingen, mich auf ein Lager zu betten, auf ein Lager, oft der Trost des Kranken. Die Lage des Schlafes, des Todes, der Freude, der Geburt. Wie schwer bezwang ich mich, diese Menschen in ihrem Dienst nicht um Gnade anzuflehen, die sie mir gar nicht erweisen konnten. Jetzt hatte ich begriffen, welch ungeheure Macht die Angst vor körperlicher Qual auf einen Menschen auszuüben vermag. Abhärtung, stoische Todesverachtung gelten nicht. Den Tod kann man verachten. Die Torturen nicht. »Er ist ein ganz Weiser«, sagte einer der Henkersknechte spottend, während er in meinen Akten blätterte und sie ganz nahe ans Licht der Laterne hielt, »es ist ein Doktor aus Zion, ein Weiser aus Zion.« – »Komm, mach schnell, wir haben zu tun, es warten noch viele auf uns, bevor wir schlafen gehen!«
    Ich lag und krampfte mich mit den Händen fest. Ich wollte den Atem anhalten. Ich nahm es mir wenigstens vor. Ich hatte eine besonders wunde Stelle, nämlich dort, wo die drei Rippen gebrochen waren. Ich legte mich so, daß sie diese Stelle nicht sofort treffen konnten. Ich hielt den Atem an. Aber bei dem ersten entmenschten Schlag schrie ich tierisch auf, ich konnte nichts halten, den Atem nicht, nichts. Ich wollte die Rippenstelle schonen. Als aber der ganze übrige Teil des Rückens durchpeitscht war und wie Feuer, wie Hölle, wie sägende, weißglühende Schneide

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