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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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weiterkonnten, traten andere an ihre Stelle, nur ich durfte mich nicht rühren. Ich sagte die Wahrheit. Ich gab alles zu, ich verteidigte mich nur mit wahrheitsgetreuen Angaben. Aber ihnen schien es auf etwas anderes anzukommen. Sie glaubten, ich würde zusammenbrechen, aber ich blieb Herr meiner selbst.
    Ich erzählte, was im Reservelazarett P. im Jahre 1918 vorgefallen war. Ich gab zu, daß ich stenografische Aufzeichnungen über die Tatsachen gemacht habe. Die offiziellen Akten hatte ich aber nicht mitgenommen. Wenn sie fehlten, mußte sie jemand anders beiseite geschafft haben, vielleicht jemand im Kriegsministerium oder ein Offizier der Reichswehr, der sich für H. als Agitator interessiert hatte. Man hörte mir zu, schrieb, fragte von neuem. Alle paar Stunden ließ man mich austreten. Der Drang, meine Bedürfnisse zu verrichten, war so stark, daß sie mir nachgeben mußten. Wäre es auf sie angekommen, hätten sie mir nicht einmal diese drei Minuten Ruhezeit auf dem Abtritt gegönnt. Diese entsetzliche Qual wiederholte sich dreizehn Tage hindurch. Ich aß nichts mehr und magerte zum Skelett ab. Ich schlief nicht. Ich hörte auf zu denken, ich wurde ein Tier und mußte doch den Menschen spielen. Dann brachen sie eines Tages unvermittelt das Verhör ab, transportierten mich mit anderen ins Konzentrationslager von D. und brachten mich in einer der Holzbaracken unter.
    Ich hatte beschlossen, der Versuchung zum Selbstmord zu entgehen. Ich wußte jetzt, und das war ein Grund für mich zu leben, daß meine Frau gerettet war. Sie war in Sicherheit. Ich mußte daher alles aufbieten, um mich nicht noch ein zweites Mal zu verraten und mich auf irgendeine Manier ohne viel Qual aus dem Weg zu räumen. Vielleicht hätten sie nichts dagegen gehabt. Ich weiß es von anderen. Sie hatten mir die Hosenträger wiedergegeben, ich hatte dünne, aber zähe Schnürsenkel in den Schuhen, ich hatte Taschentücher. Ein Mensch mit großer Willenskraft kann sich erwürgen, er kann sich erhängen, auch ohne Schemel und Fensterklinke. Er braucht dazu kein Licht. Er muß nur den festen Willen dazu haben, muß ein Spartaner sein.
    Ich beschreibe dieses Lager nicht, es war wie alle anderen. Ich werde die Geschichte keines meiner Unglücksgefährten auch nur mit einem Wort streifen, sie ist wie die meine. Ich würde sonst kein Ende finden. Einer hat mir gleich nach der Ankunft gesagt: »Mach dich gefaßt, Mensch!« Es schien, daß ich ihn von früher kannte, wir waren ja alle Menschen, vielleicht von der Deutschen Friedensgesellschaft her, ich kann es nicht sagen. Ich hatte das Vermögen verloren, an etwas anderes zu denken als: ›Laß dich jetzt durch nichts zum Selbstmord bewegen! Halte aus! Vielleicht siehst du deine Frau und deine Kinder wieder! Sie leben, du wirst sie wieder sehen. Laß dir unter keinen Umständen dein Geheimnis abpressen! Gib die Akten nicht preis! Gib das Geheimnis nicht preis! Halte aus! Laß dich also zum Selbstmord durch nichts bewegen ...‹ Dieser ganz enge Gedankengang lief seine kreisförmige Bahn, und ich dachte tatsächlich bald an nichts anderes mehr. Ich sah und hörte so gut wie nichts. Ich hockte auf der Pritsche und beschwor mich selbst.
    Ich glaube, ich hatte dadurch instinktiv das einzige Mittel, um alles lebend auszuhalten, gefunden, ich hatte meinen geistigen Horizont eingeschränkt, ich hatte mir suggeriert, was ich zu denken hatte, und ich hatte die Übermacht des Arztes, wenn ich so sagen darf, in meinem eigenen Fall wirken lassen. Ich stand als Augenzeuge neben dem Häftling. Ich befahl mir und gehorchte mir. Mir stand Schreckliches bevor. Ich mußte mit mir im Reinen sein. Ich durfte mir nicht widersprechen, denn jeder Widerspruch brachte mich zur Verzweiflung, und die Verzweiflung war nur ein anderes Wort für Tod.
    Die Nacht kam langsam heran. Als es neun Uhr geworden war, wurde es in den Zellen der Holzbaracken, wo ich und so viele andere jetzt lebten, immer lebendiger statt ruhiger. ›Mach dich gefaßt, Mensch!‹ sagte ich nun selbst zu mir. Ich höre die Schlösser klirren und den knarrenden Schall von groben Stiefeln auf den sandbestreuten Wegen. Sie waren an meiner Zelle vorbeigegangen. Mir war zumute wie als Kind, als der Judenkaiser lange die Einstichstelle gesucht und mich gekitzelt hatte, so daß ich vor Angst hätte heulen und vor Kitzel hätte lachen mögen. Aber jetzt war zum Lachen keine Zeit. Die Wände waren dünner, als ich gedacht hatte, man hörte alles, als geschähe es hier.

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