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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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so nahe am Rande des Grabes, daß er aus eigner Kraft das Bett nicht verlassen konnte. Ich war weitaus der Gesündeste und Stärkste unter allen, und das machte meinen Entschluß leicht. Ich wußte, man konnte mich nicht mehr lange hier halten. Die Wache machte um acht Uhr die Runde. Gegen zehn Uhr stand ich auf, zog meine Kleider an, machte mich auf den Weg und schlich zu dem Stacheldrahtgürtel. Die Sache war einfach. Wenn das Licht im Kommandantenhaus und im Wartturm erlosch, war die Möglichkeit da, daß die Stacheldrähte nicht mehr geladen waren. Ich lag, mit dem Bauch an das von Rauhreif bedeckte Gras angepreßt, stundenlang da, und das Geschrei der armen gemarterten Kreaturen verstummte nicht in dieser Winternacht. Als die Uhr im Kommandantenhaus elf Uhr schlug, erlosch das Licht. Es kann sogar sein, daß es etwas früher erloschen ist. Ich war trotz der Kälte und Aufregung etwas eingeschlummert und hatte vielleicht die einzige Minute verpaßt. Aber ich wollte heraus. Ich warf mich mit aller Gewalt mit dem Rücken in den Stacheldraht, um die Drähte auseinanderzubekommen. Sie zerfetzten mir den Nacken, die Ohren und die Hände, aber sie hatten unter der Wucht meines Körpers etwas nachgegeben, und man konnte hindurchschlüpfen. Geladen waren sie nicht. Sonst wäre ich tot gewesen, verbrannt im elektrischen Schlag. Es war stockdunkel, ich mußte mich durchfühlen, ich mußte mit dem Kopf durch die Drähte hindurch und hielt die Hände vor die Augen. Auf Schmerzen durfte ich nicht achten. Ich war jetzt ganz klar. Ich war Augenzeuge meiner selbst. Ich sah mich an einer ähnlichen kalten, klaren Vorfrühlingsnacht die Stacheldrahtverhaue an der Westfront durchdringen und spürte, wie die ineinandergewundenen, mit spitzen Zacken gespickten Drähte sich an mich klammerten, wie sie an mir zerrten und mich halten wollten.
    Ich war schon mit dem Kopf draußen, da kam es mir unmöglich vor, weiterzukommen. In jedem Augenblick konnte das Licht, der Strom wieder eingeschaltet sein. Mit einer letzten Anstrengung riß ich mich durch. Ich zerrte, mich mit den Händen an den Boden klammernd, die Schulter und den Körper nach. Jetzt war ich jenseits der Drähte, blutend an den Händen, blutend an der Stirn und vom Nacken her, von den Ohren, von den Knöcheln.
     
    Ich mußte warten, bis die stärkste Blutung vorbei war. Dann aber merkte ich, ich war so geschwächt, daß mir die Augen zufielen. Ich lag wieder da, den Bauch an das Gras angepreßt, da flammte das Licht auf. Fetzen von meinem Anzug hingen noch in den Drähten. Es wehte kühl, die Sterne schimmerten klar, es schienen mir andere Sterne zu sein, ich glaubte, andere Luft zu atmen als drinnen im Lager. Ich raffte mich auf, tat die ersten Schritte mit Mühe, nach und nach kam mir wieder etwas Kraft, und ich ging, mich vorsichtig im Schatten haltend.
    Eine Runde kam vorbei. Ich verbarg mich hinter einem Baum. Der Posten sah mich nicht und ging, abwechselnd pfeifend und an seiner Zigarette ziehend, weiter. Mich wunderte es, daß er mich nicht sah. Ein einigermaßen geübter Blick hätte auch in der mondlosen Nacht einen Mann erkennen müssen. Nun stand mir noch das Schwerste bevor. Eine dichte Wand aus Holzpfählen führte rings um das Lager. Ich war früher ein guter Turner gewesen, als gesunder Mensch wäre es mir nicht unmöglich erschienen, ein solches Hindernis zu überwinden. Jetzt war ich viel zu schwach, mein Herz tobte, von meinen Lippen kam Blut, und die schlecht zusammengewachsenen Rippen schmerzten mit jedem Atemzuge. Nun war meine Lage aber viel schlechter als vorhin. Ich konnte nicht mehr in die Krankenbaracke zurück, da der Stacheldraht wieder geladen war. Ich ging die Wand entlang, völlig ruhig – und völlig verzweifelt zugleich.
    Ich machte die Runde, einen Kilometer nach links, einen Kilometer nach rechts. Plötzlich sah ich eine kleine Tür. Es gab solche Einlaßpforten für die Wachmannschaft. Was nützte sie mir, wenn sie verschlossen war? Aber ich entsann mich meines Unglaubens in Bern. Ich trat näher, rüttelte an ihr: dann kam das große Wunder – zum erstenmal in meinem Leben, als ich am wenigsten darauf gefaßt war, zeigte es sich –, die Tür gab nach, ich war aus dem Lager. War ich gerettet? Noch lange nicht.
    Ich wußte, wo das Lager war. Es befand sich keine fünf Stunden von S. Freilich mußte ich vermeiden, die großen Straßen zu begehen. Ich tat sogar besser daran, nur während der Nacht zu gehen und am Tage mich zu verstecken.

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