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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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brannte, wälzte ich mich doch so, daß ihren Peitschenenden diese Stelle, die ihnen bisher entgangen war, gegenüberlag, und sie hieben alle drei zu, im Takt, wie Drescher auf der Tenne dreschen, mit aller Kraft, keuchend, und sie waren es, die schrien, die im Takt einstimmig im Sprechchor brüllten: »Hoch die Weisen von Zion.« Bei ›Ziii – ‹ schlugen sie, das heißt, der eine von rechts, der andere von links, der dritte brachte seine Hiebe an, wo er konnte. Mir rann der Schweiß vom Gesicht, Tränen aus den Augen, Blut von den Lippen. Die Haut meines Körpers aber blutete nicht. Sie hieben so geschickt, daß die Haut nirgends platzte. Als sie müde wurden, hieben sie etwas schwächer, aber sie hatten die Ziemer umgedreht, so daß sie mit dem knorpligen Teil zuschlugen und den dünnen in der Hand behielten. Sie schlugen nicht mehr nur den Oberkörper, sondern auch die Beine, peitschten über die Fußsohlen hin. Es mußten 50 bis 60 Schläge sein. Ich zählte sie nicht. Der vierte Mann, der mit der Laterne, den Protokollen, der Dichter des Sprechchors der Weisen, er zählte sie.
    Ich wußte aus Büchern, mehr als hundert solcher Hiebe erträgt ein Mensch in reiferem Alter nicht. Aber bevor er an diesen Schlägen stirbt, wird er ohnmächtig. Ich wurde es nicht. So mußten sie wohl den Befehl bekommen haben, mich so schwer zu prügeln wie nur möglich, aber mein Leben zu schonen.
    Ich dachte, wenn ich überhaupt an etwas denken konnte, an die Papiere. Ich preßte die Zähne mit solcher Wut zusammen, daß sie knirschten, und dachte, ich würde, wenn sie mich nicht erschlagen würden, vielleicht doch später Herr über ihn . Ihm, dem alles gelang, würde wenigstens das eine nicht gelingen, mich meiner Aufzeichnungen zu berauben.
    Nun brannte aber der Schmerz noch heftiger, und ich merkte, ich erbrach mich, und es wurde mir nun doch sehr schwach, und es wurde mir plötzlich schwarz vor den Augen.
    Aber es war nicht der Tod, die Knechte waren hinausgegangen und hatten uns im Dunkel gelassen. Ich hatte das Gehen der Tür nicht gehört.
    Hätte ich wenigstens jetzt Ruhe gehabt! ›Hören sie denn gar nicht mehr auf?‹ Denn die Pein ging weiter, es brannte meine Haut, es zitterte alles an mir, ich lag in der Nässe, zermalmt, ich hielt mir die Ohren zu und hörte doch das Zischen der Ochsenziemer, das Klatschen auf der Haut, die Hilferufe des Opfers, das Knarren auf der Pritsche, auf der es sich hin und her warf, die höhnenden Rufe ›Siegreiche Weltrevolutiiion!‹, wobei immer auf das › – iiion‹ ein Peitschenschlag kam. So machten sie sich etwas Abwechslung in ihrem Dienst. Sie hörten gar nicht mehr auf. Ich bin eingeschlafen unter ihren Sprechchören, ihrem Peitschen, unserem Jammern und Stöhnen. Ich habe geschlafen. Tief. Das sollte eine große Seltenheit sein, sagten mir Unglückskameraden. Sie wußten vielleicht nicht, daß ich im Polizeipräsidium 13 schlaflose Nächte hinter mich gebracht hatte.
    Ich sah am nächsten Morgen, als ich von der Baracke auf den zerpeitschten Beinen hin und her humpelte und bemüht war, möglichst leicht zu atmen, weil ich in der Nacht etwas Blut gespuckt hatte, zwei von den Knechten von gestern. Es waren Menschen, wie man sie täglich sieht, wie ich deren eine große Zahl als Arzt in S. behandelt hatte. Ich hatte sie nie in ihrem Wesen, ihrer Natur gekannt, mir war das Fürchterliche in ihnen verborgen geblieben. Wäre ihr Führer, ihr Idol, ihr Abgott, der süßlich brutale Götze, eines Tages nicht erschienen, sie wären kleine Beamte, Dreher in einer Fabrik, Fischer, Forstbeamte, Torfstecher, Unteroffiziere geblieben. Ein leibhaftiger Satan hatte sie verwandelt, und vielleicht begriffen sie sich selbst nicht mehr, wenn sie nach all dem zu Frau und Kind und zum Bier zurückkehrten. Bestialisch darf man sie ebensowenig nennen wie einen Geisteskranken. Man würde den Tieren Unrecht tun. Vielleicht auch den Henkersknechten. Sie hatten wahrscheinlich nicht einmal das Gefühl des Schändlichen. Sie hatten nur kein Gewissen, keine Vernunft mehr bei ihrem Tun. Man hatte eben nur das Unterste aus ihnen herausgeholt. Man schlug mich noch oft, aber das Zermalmende der ersten Nacht kam nicht wieder. Es kamen auch neue Verhöre. Man wollte nicht meinen Tod. Man erinnerte sich, daß ich im Weltkrieg, ohne dazu gezwungen zu sein, als Frontkämpfer gedient hatte. Sie fragten immer wieder nach den Protokollen, aber sie spotteten nicht mehr, und wenn sie mich schlugen, taten sie es mit

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