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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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mich. Ich hätte am liebsten oft tagelang keinen Menschen um mich gesehen. Sie mußte ich um mich dulden, denn sie war doch das einzige, das mich an das Leben band. Aber wir beide fühlten wohl, es war zuviel zwischen uns zerstört. Ich war scheu geworden. Ich sah keinem mehr ins Auge, ich hatte Angst vor Menschen. Vor allen Menschen und daher auch vor ihr. Wer sehr starke körperliche Torturen ausgehalten hat, braucht sehr lange, bis er wieder Mut faßt. Ich blickte mich jedesmal voll Angst um, bevor ich sprach. Hatte ich immer noch Angst, man könnte mich belauschen? Und, was das schwerste war, ich traute auch Viktoria nicht mehr. Man kann auch ohne Liebe mit einem Menschen jahrelang gut zusammenleben; ich hatte es bei Angelika in den Jahren vor dem Krieg gesehen. Aber ohne Vertrauen kann man nicht leben. Meine Frau mußte es merken. Aber statt mich zu verstehen, wurde sie selbst mißtrauisch. Ich traute ihr nicht, weil sie durch die Auslieferung der Papiere an die Geheime Staatspolizei mein ganzes Opfer zu einem vergeblichen Versuch des Widerstandes gegen H. gestempelt hatte. Ich hatte eine Waffe gehabt gegen ihn, vielleicht nur eine winzige Waffe, aber sie war mir etwas Großes gewesen, und ich habe die Qualen im Lager ertragen können mit dem Gedanken, daß ich ihm in diesem Punkte bei all seiner brutalen Gewalt überlegen war, und in dem Gefühl meiner Liebe und meines Vertrauens zu meiner Frau. Nun hatte er die Papiere, ich hatte meine Frau nicht mehr, denn ich traute ihr nach diesem ersten Verrat aus Liebe noch einen zweiten zu. Sie begann, mir zu mißtrauen, weil sie meine Handlungsweise nicht verstand und – Judenhaß in ihr sah!
    Sie erinnerte sich und mich sehr zur Unzeit an den Judenhaß meiner Mutter, an ihren Undank nach dem Prozeß, an die bösen Worte, die meine selige Mutter ihr durch den Türspalt zugerufen hatte, an den mir auf dem Totenbett abgenommenen Schwur, ich würde sie nicht heiraten.
    Alle diese Tatsachen waren wahr. Aber die Lüge, wie sie ein A. H. in ungeheurem Strom über sein Land ausgeschüttet hatte, machte dort die Menschen in ihrem verblendeten Rausch glücklich, unsere Wahrheiten, die wir uns in langen schlaflosen Nächten zuflüsterten, um die Nachbarn nicht zu stören, machten uns unglücklich und entfremdeten uns noch mehr. H.s Lüge hatte alle Deutschen von der Nordsee bis zu den bayerischen Gebirgen vereint, hatte alle Grenzen niedergerissen. Und wir in unserem engen Hotelzimmer in Bern konnten nichts finden, was uns einander nähergebracht hätte.
    Ich hatte meine Mutter, solange sie lebte, angreifen oder meiden und Viktorias Partei ergreifen können. Nachdem sie aber aus dem Leben geschieden, war sie mir heilig geworden. Ich war Viktorias Mann seit bald zwölf Jahren, aber meiner Mutter Sohn vom Anfang meines Lebens her.
    Meine Frau war immer noch schön, eine reife, etwas üppige Schönheit, aber ich sah ihr Altern nicht. Ich wollte mich ihr nähern, sie wich unmerklich zurück, sie flüsterte, ich müsse mich schonen. Sie hatte recht, ich hatte unrecht, mein Rücken war eine einzige Wunde, die schlecht heilte, und doch wäre es mir tausendmal lieber gewesen, ich wäre am nächsten Morgen mit Schmerzen erwacht, als daß wir wie zwei Steine nebeneinanderlagen.
    Manchmal machten wir schöne Spaziergänge und kamen über eine prachtvolle Brücke. Man sieht von hier die ganze Stadt und die schönen Hügel und die eisbedeckten Berggipfel, besonders das Massiv der Jungfrau. Meine Frau hatte sich diesmal wieder warm in meinen Arm gehängt und raunte mir ins Ohr, mich mit ihren weichen, seidigen, nur von wenigen grauen Fäden durchzogenen Haaren streifend: »Dankst du mir nicht, daß ich dich aus dem furchtbaren Land und dem Lager herausbekommen habe? Denke nur ja nicht, daß es leicht war! Helmut haßt die Jüdinnen, und ich habe lange gebraucht, bis ...« Ich schüttelte den Kopf. Es empörte mich, daß sie mich daran erinnerte, daß ich ihr zu Dank verpflichtet sei und daß sie etwas von ihrem Stolz geopfert habe, um von Helmut das zu erlangen, wozu er mir als Freund verpflichtet gewesen wäre. Sie merkte es, löste ihren Arm aus meinem und konnte, errötend vor Scham und Zorn, sich nicht versagen, mich zu treffen: »Auf der Holzpritsche und unter den Ochsenziemern hättest du anders gesprochen! Da hättest du dich meiner nicht geschämt! Aber du weißt ja, ich habe dich nicht zur Ehe gezwungen. Ich hätte allein leben können, mein Vater hat mir oft geraten, ich solle dir

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