Ich, die Chronik
Verlangen, von hier fortzugehen. Nicht das Ende, den völligen Zusammenbruch dieses unnatürlichen Gesellschaftssystems miterleben zu müssen .
Als sie sich ein paar Schritte vom Pyramidensockel entfernt hatte, erschien oben auf der Plattform plötzlich Landru.
Da wußte sie, wo er gewesen war.
Er stieg zu ihr herab, und Nona unterdrückte gewaltsam das Bedürfnis, sich in seine Arme zu werfen. Ihr Verstand sagte ihr, daß eine zeitweilige Trennung das Beste für sie beide war, und wenn sie jetzt .
»Es tut mir leid«, sagte er und unterstrich seine Worte gestenreich.
»Leid?« echote sie.
In knappen Worten schilderte er ihr, wo er mit der CHRONIK gewesen war - und was er zu erreichen versucht hatte.
»Vergeblich«, schloß er. »Ich hatte gehofft, ich könnte den magischen Quell >überreden<, mir die Schrift zu übersetzen. Und ich bin immer noch überzeugt, er wäre dazu in der Lage. Aber ich kann ihn nicht zwingen. Vielleicht, wenn ich den Lilienkelch noch in seiner ursprünglichen Form besäße ... Ich hätte mir auch deinetwegen gewünscht, die Glyphen zu entschlüsseln.« Er faßte sie eindringlicher ins Auge. »Du - willst schon gehen?«
»Nein«, sagte sie. »Nicht vor morgen. Wie ich schon sagte.«
Er nickte.
»Was wird aus dem, was du in mich gepflanzt hast, damit ich den Wall passieren kann?« fragte sie.
Er zuckte die Achseln, als wüßte er es selbst nicht. »Es hat in der Welt, in die du zurückkehrst, keine nachteiligen Auswirkungen auf dich. Wenn es dich dennoch stört, werde ich es bei unserem nächsten Wiedersehen entfernen.«
»Das kann lange sein.«
Er schüttelte den Kopf.
»Du meinst ...«, seufzte sie, »... weil mir die Zeit davonläuft?«
»Es ist nicht mehr wie früher«, bejahte er ihre Frage indirekt, »als es egal war, wann wir uns wiedersahen. Als die Jahre, wie viele es auch wurden, keine Rolle spielten .«
Sie nickte verkniffen. »Wenn ich dich jetzt bitte, die letzte Nacht mit mir zu verbringen, bedeutet das nicht, daß ich nicht mehr zu dem stehe, was ich vorher gesagt habe. Ich gehe auf jeden Fall. Willst du trotzdem bei mir sein, wenn diese scheußliche Sonne hinter dem Wall versinkt?«
Er überlegte lange, bevor er sich zu einer Antwort durchrang.
Auch das hatte sich geändert.
*
»Ich war der erste Tiefe«, sagte Calot mit leiernder Stimme. »Als junger Mann ließ mich eine Krankheit erblinden. Schon kurze Zeit nach diesem Schicksalsschlag kamen Priester in die Hütte, in der ich mit seiner Familie hauste. Vater und Mutter waren damals noch am Leben. Die Priester forderten mich auf, ihnen zu folgen. Hinauf zur Opferstätte des Großen Tempels. Meinen Eltern teilten sie mit, ich habe mein Leben durch die Krankheit verwirkt. Du, Hohe Königin Peten, die einst mein Blut kosten durfte, hättest es so entschieden, weil sich die Fenster, durch die du aus meinem Kopf heraus spähen konntest, für immer geschlossen hatten.
Damals habe ich erst erfahren, daß unsere Herren sich die Augen ihrer Untertanen zu eigen machen, um auf diese Weise jedes Aufbegehren schon im Keim zu erkennen und zu ersticken.
Besondere Umstände haben damals mein Leben gerettet: Auf dem Weg zum Tempel brach der Boden unter mir plötzlich ein. Ein von Mardern gegrabenes und vom Regen weiter ausgeschwemmtes Loch entzog mich den Blicken der Priester, und diese waren wohl zu unentschlossen, mir sofort zu folgen. Bis sie endlich etwas unternahmen, war ich bereits durch einen zweiten Ausgang wieder herausgekrochen und hatte mich im Dickicht verborgen. Ich hörte, wie sich meine Häscher berieten und erfuhr, daß sie das Vorkommnis dem Palast melden wollten. Einer von ihnen ging fort, um es zu tun. Bald darauf erfüllte ein Brausen die Luft, und dann hörte ich plötzlich meinen Namen rufen - in fast unwiderstehlichem Ton: >Komm her-aus!< befahlst du mir, Hohe Königin, und fügtest hinzu: >Erspare es dir, mich noch mehr zu erzürnen!< Damals habe ich kaum widerstehen können, aus meinem Versteck hervorzutreten. Der bedingungslose Gehorsam war tief verwurzelt. Aber letztlich verweigerte ich mich doch, auch wenn mich deine bloße Stimme wie trunken machte.
Du hast den Priestern befohlen, das Loch, in dem ich verschwunden war, mit trockenem Gehölz aufzufüllen und anzuzünden. Auf diese Weise sollte ich ausgeräuchert werden. Und schon nach kurzer Weile trat der Rauch auch aus dem Ende des Ganges aus, durch den ich geflüchtet war. Auch dieser Schacht wurde aufgefüllt und in Brand gesetzt. Als ich
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