Ich, die Chronik
das, was sein Tastsinn ihm vorgaukelte, erschien ihm plötzlich trügerisch.
UND WAS WILLST DU DAMIT?
Darin . lesen.
DAS IST DIR VERSAGT.
Ja. Aber warum? Ich habe dasselbe Recht wie - DU IRRST. DU HAST - ZU RECHT ODER UNRECHT SEI DAHINGESTELLT - NIE DEN LOHN DEINER HÜTERSCHAFT ERHALTEN. DAS UNTERSCHEIDET DICH VON DEM HOHEN MANN, DER DEM UNTERGANG DES DOMS ENTRONNEN IST. ALS EINZIGER.
Anum!
Die Frage war rhetorisch, und die »Stimme« ging auch nicht weiter darauf ein.
Anum hat sich gegen mich gewandt, dachte Landru, und wie einen Feind behandelt! Aber ich bin nicht sein Feind, und das werde ich ihm beweisen! Ich bin sicher, das Mißverständnis läßt sich aufzuklären, wenn ich weiß, was er in der CHRONIK über mich gelesen hat. Es mag die Wahrheit sein - aber Wahrheit ist ein dehnbarer Begriff. Ich will und werde ihn überzeugen, daß wir auf derselben Seite stehen!
DAS WIRD DIR NICHT GELINGEN. ODER WÜRDE DICH EIN INSEKT ÜBERZEUGEN, SELBST WENN ES DIR SCHLÜSSIGE BEWEISE LIEFERN KÖNNTE, IRGENDWIE MIT DIR VERWANDT ZU SEIN ...?
*
Calot schlug die Augen auf. Absurderweise konnte er wieder ...
... sehen?
Verschwommen noch, umrißhaft, sickerte das Bild seiner Umgebung durch seine Pupillen.
»Wieso kann ich ...?«
Seine Stimme, die ein hohles, fremdes Echo in seinen Schädel warf, verebbte. Er richtete sich auf.
Stille.
In ihm war Stille. Vollkommenes Schweigen.
Um ihn herum jedoch - Calot erkannte die Hohe Königin Peten, die wie schwerelos auf ihn zuglitt, so sicher, als hätte er sie erst gestern - nicht vor mehr als fünfundzwanzig Sonnenjahren - zum letzten Mal zu Gesicht bekommen.
»Ehrwürdige .«
War er das? Aber wer legte ihm ein solches Wort auf die Zunge?
Er blickte an sich herab. Seine Kleidung war dunkel gefärbt, naß und im Bauchbereich zerfetzt. Das Blut, das die Tunika tränkte, war schon kalt.
Mein Blut, dachte Calot.
Er trat auf Peten zu. Einen Priester, der ihm im Weg stand, stieß er zur Seite, ohne sich Gedanken über die eventuellen Folgen zu machen. Seine Fesseln waren gelöst worden. Er lag nicht mehr auf dem Opferstein. Er war nicht mehr . blind!
Träumte er dies alles nur? Hatte er auch nur geträumt, ein Tiefer zu sein .?
»Herrin!« seufzte er glückselig, als er vor Peten auf die Knie fiel und mit spröder Zunge über ihre Sandalen leckte, in der Hoffnung, solche Ehrerbietung könnte ihr gefallen und sie vergessen machen, was er ihr als Lebender angetan hatte.
Die Vampirin starrte angewidert auf ihn herab. Dann schloß sie die Augen und betrachtete sich aus der Perspektive des Alten.
Ohne die eigenen Lider zu heben, sagte sie: »Wie konnte es nur kommen, daß ihr so lange unbemerkt unter der Erde wühltet?
Dumme, schwache, minderwertige Kreaturen wie ihr ...?«
Calots Blick fand, den Tränen nahe, Vador, den er zuletzt als jungen Mann zu Gesicht bekommen hatte. Er wollte ihn ansprechen, aber ein Knoten in seiner Kehle hinderte ihn daran.
Dieser Knoten löste sich erst, als er Petens Bitte erfüllte. Als er ihr verriet, was sie wissen wollte.
Alles. Und jeden.
Ungehemmt sprudelte sein Werdegang über seine Lippen - die toten Lippen einer gehorsamen Dienerkreatur. Die Geschichte, wie alles begonnen hatte .
*
Nona trat aus dem Raum im Sockel der kleinen Stufenpyramide, die das mathematisch exakte Zentrum Mayabs markierte, hinaus ins Freie.
Der Tempel hatte schon hier gestanden, bevor der Lilienkelch sich entschloß, die Stadt in einen Mantel aus Magie zu hüllen. Der Kelch hatte dieses verhältnismäßig kleine Bauwerk ausgewählt, um den Pfeiler aufzunehmen. Seither schlug in einer Kammer auf der Gipfelplattform ein Herz, das nie gelebt hatte - und vielleicht nie sterben würde.
Vielleicht, dachte Nona, während sie die von dunklen Aromen erfüllte Luft einsog, würden die Säule und das Gewölbe, das sie stützte, ewigen Bestand haben und irgendwann eine gänzlich verödete Welt umschließen, in der es weder Mensch noch Tier noch Vampir gab .
Während sie sich fragte, wo sich Landru gerade aufhalten mochte, heftete sie ihren Blick auf den Palast, der nur noch eine an vielen Stellen in sich zusammengesunkene Ruine war.
Nicht weit davon erhob sich der Große Tempel, wo die letzten Vampire damit beschäftigt waren, Landrus Befehl zu erfüllen. Ab und zu wehten die Schreie der Gefolterten bis zu Nonas Standort herüber.
Wie sinnlos, dachte sie.
Sie glaubte plötzlich zu wissen, daß Mayab keine Zukunft hatte, und noch stärker packte sie das
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