Ich & Emma
Es ist ihr egal. Um die Wahrheit zu sagen, ist sie bestimmt sogar froh, wenn wir nicht da sind. Sie muss sich um ihre Stapel kümmern, und ich glaube, sie kann das besser in Ruhe und Frieden. Den ganzen Tag lang sitzt sie da und faltet Briefe, stapelt sie zu hohen Türmen, bis alle Umschläge mit Adressaufklebern versehen sind, in die sie dann die Briefe steckt. Wir dürfen die Briefe nicht lesen, weil Mama meint, wenn wir das Papier verknittern, würde sie gefeuert werden. Mir ist es aber egal, was drin steht, nachdem Mama immer so gelangweilt aussieht, kann es nicht sonderlich interessant sein. Mama ist so klug, dass sie für diese Arbeit nicht einmal zu einem Vorstellungsgespräch gehen musste. Sie hat nur auf ein Inserat in der Zeitung geantwortet, in dem stand, dass man tonnenweise Geld verdienen könne. Am Telefon gefiel sie den Leuten so gut, dass sie den Job sofort bekam, hat sie gesagt. Emma und ich versuchen herauszufinden, wo die versprochenen Tonnen Geld sind, aber wahrscheinlich ist es kindisch zu glauben, dass eines Tages ein Lastwagen vor unserem Haus hält und Taschen voller Bargeld ablädt wie Brot vor einer Bäckerei. Emma aber wartet noch immer auf den Lastwagen.
“Du kommst zu spät, Caroline.” Miss Hall scheint ungefähr so unzufrieden mit mir zu sein wie Mr. Stanley vorhin. “Das ist diese Woche schon das dritte Mal.” Sie malt etwas neben meinen Namen in dem Buch auf ihrem Tisch.
Ich komme ja nie absichtlich zu spät, aber manchmal machen meine Gedanken Umwege. Manchmal schreibe ich auch plötzlich mit einer anderen Handschrift. Ich weiß, wie der Buchstabe
k
aussehen sollte, aber dann, zack! – steht er plötzlich falsch herum da. Und wenn da so ein falsches
k
steht, dann auch immer in der anderen Schrift, über die ich selbst überrascht bin. Die sieht fast so aus, als wäre ich erst in Emmas Klasse. Richtig zittrig und groß und, wie gesagt, rutschen die Buchstaben manchmal durcheinander. Meistens kann ich mich auf das konzentrieren, was ich direkt vor mir habe. Heute jedoch nicht, fürchte ich. Mama wird auf meinem Zeugnis die Bemerkung, dass ich oft zu spät war, gar nicht bemerken. Und wenn, wäre es ihr vermutlich auch egal.
“Was ist los, Scary? Weißt du nicht mehr, wie man seine Schnürsenkel bindet, du kleines
Baby?”
Mary Sellers hat mit diesem Spitznamen angefangen, Scary Carrie. Sie alle zeigen auf mein Haar, das ist komisch, denn es ist nicht halb so verfilzt wie Emmas, aber sie zeigen trotzdem drauf. Meine Schuhe haben mich schon den ganzen Tag über gestört. Ich kann es nicht leiden, wenn die eine Seite ganz fest geschnürt ist und die andere nicht. Diese Schuhe sehen so aus, als ob meine Mutter sie schon getragen hätte, als sie in meinem Alter war. Deswegen habe ich sie auch bekommen, Mama entdeckte sie nämlich letztes Jahr in einem Laden und brach praktisch direkt vor Mr. Franks in Tränen aus. Mr. Franks besteht darauf, dass man sich die Schuhe mit einem Schuhlöffel aus Metall anzieht und sich nicht irgendwie reinquetscht, so, wie wir das sonst immer tun. Was bildet der sich überhaupt ein? Dass wir jeden Tag einen Schuhlöffel benutzen? Die Schuhe sind überwiegend weiß und haben jeweils einen schwarzen Streifen in der Mitte und an den Seiten. Die Spitzen sind abgerundet, damit die Füße genug Platz zum Wachsen haben, das ist gut, denn Mama sagt, die Schuhe seien so teuer gewesen, dass es für eine Weile keine neuen geben würde. Niemand in meiner Schule trägt so zweifarbige Schuhe. Sie sind einfach eine weitere Waffe, die Mary Sellers in ihrem Krieg gegen Scary Carrie benutzen kann. Sie nennt sie “Dominoschuhe”. Ich sage mir immer, dass mir das egal ist. Und das ist es mir auch. Wirklich.
2. KAPITEL
W ir ziehen um, und deswegen rede ich mit Mama kein Wort. Ich will hier nicht weg, aber sie sagt, wir müssen. Und Emma ist auf ihrer Seite. Ihr gefällt es hier auch nicht. Gestern Abend hatte Mama die Nase voll und sagte, sie würde nur Emma mitnehmen, ich könne allein hier bleiben, aber als ich sagte “schön”, hat sie mich auf mein Zimmer geschickt, also werde ich wohl doch nicht hier bleiben. Achtjährige Kinder sollten nicht allein in großen alten Häusern wohnen, aber trotzdem … ich will nicht gehen. Richard sagt, es würde vorangehen, und zwar nach oben. Das hat er in letzter Zeit sehr oft gesagt. Er hat einen neuen Job auf der anderen Seite von North Carolina bekommen, und deshalb müssen wir mit ihm gehen, denke ich, auch wenn ich gar
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