Ich & Emma
Flur groß ist und viel mehr Mondlicht hereinlässt. Das hier ist der schwierigste Teil, die Stufen sind aus altem Holz und knarren immer dann, wenn man es am wenigsten erwartet – also zumeist, wenn man es gerade gar nicht brauchen kann. Natürlich höre ich schon auf der ersten Stufe dieses gefürchtete
Knaaaarz.
Und zwar so laut wie das Bootshorn, das Richard einmal direkt in mein Ohr geblasen hat, weil er es lustig fand, mich zu erschrecken. Emma bleibt wie angewurzelt stehen, wir warten ab, ob das Schnarchen aufhört. Die Tür bleibt aber geschlossen, und auch wenn ich Richard jetzt nicht hören kann, glaube ich, dass er nach wie vor tief schläft. Heute Abend hat der Mülleimer sieben Mal gequietscht, das ist ein Pluspunkt für uns. Auf den nächsten drei Stufen funktioniert alles wunderbar. Aber dann, auf der fünften Stufe passiert es wieder:
Knaaaarz.
Diesmal ist das Geräusch etwas dunkler und erinnert mich an die Kuh, die ich einmal sah, und die auf der Seite liegend versuchte, ihr Kalb herauszupressen. Wir halten wieder an, ich bete schweigend. Bitte, lieber Gott, lass sie nicht aufwachen.
Dieses Mal nickt Emma mir zu, sie steht weiter oben und hat die Schlafzimmertür im Blick. Ich gehe weiter. Nach drei weiteren geräuschlosen Stufen sind wir unten angekommen und haben es beinahe geschafft. Nur die Haustür bereitet uns noch Sorgen, weil das Fliegengitter, wenn man nicht aufpasst, hinter einem zuknallt. Aber heute Nacht sind wir mehr als vorsichtig, ich schätze, wir sind wieder im Geschäft, wie Mama immer sagt. Ich drehe den Türknauf und ziehe, und nun steht nur noch dieses rostige Metallgitter zwischen uns und der Freiheit. Wie in Zeitlupe schiebe ich es auf. Nein, langsamer als in Zeitlupe. Ich öffne es so langsam, dass man kaum sieht, wie es sich bewegt. So vorsichtig bin ich, und das macht sich bezahlt: Kein Quietschen! Zum Glück.
Nun liegt es an Emma, das Gitter so langsam zu schließen, wie ich es geöffnet habe. Sie scheint meine Gedanken lesen zu können. Es ist wirklich nicht leicht, das hinzubekommen, während man einen schweren Kleidersack trägt, und ich nehme mir vor, später, wenn ich erwachsen bin, niemals so einen Sack zu benutzen. So was ist für meinen Geschmack viel zu unpraktisch.
Als die Gittertür hinter Emma wieder geschlossen ist, betrachten wir die schmutzige Auffahrt, in der Richards Laster nachts schläft, und was nun vor uns liegt, ist der Rest unseres Lebens.
So dunkel wird es auf den Bermudas wahrscheinlich nie. Ganz konzentriert blinzle ich in die Nacht, um zu sehen, wohin wir gehen. Ich habe ganz vergessen, wie müde ich noch vor wenigen Minuten war. Hunger habe ich auch keinen, das ist gut, denn wir haben nichts mitgenommen außer einem halbvollen Glas Erdnussbutter, das ich mir in der letzten Sekunde noch geschnappt habe.
Alles schläft, nicht mal die Blätter der Bäume rascheln, wie sie es tagsüber tun, ich schätze, sie sparen sich ihre Kraft für den Morgen auf. Morgen. Was sollen wir dann tun? Ich habe mit Emma nicht darüber gesprochen, aber um ehrlich zu sein, mache ich mir ganz schön Gedanken darüber, wo wir uns verstecken sollen, wenn die Sonne erst mal aufgegangen ist. Wir kommen ja nicht so schnell voran, wie ich geplant hatte, also glaube ich nicht, dass wir die Haltestelle rechtzeitig erreichen, um den Bus um 5 Uhr 55 nach Raleigh zu erwischen. Dann muss Plan B herhalten. Das Problem ist nur, das ich mir keinen Plan B ausgedacht habe, darum muss ich jetzt wirklich angestrengt nachdenken. Hm.
“Glaubst du, sie werden uns finden?” fragt Emma.
“Nein”, antworte ich, obwohl ich mir nicht wirklich sicher bin.
“Gut.” Sie läuft weiter.
“He, Em.”
“Ja?”
“Wieso hast du deine Meinung geändert?”
Schon seit gestern, als wir von der Wiese zurückkamen und sie plötzlich anfing zu packen, will ich ihr diese Frage stellen. Doch ich hatte Angst, sie laut auszusprechen, für den Fall, dass Richard am unteren Ende der Leiter stehen würde.
“Weiß auch nicht”, sagt sie, aber ich glaube ihr nicht.
Wir gehen weiter.
Nachdem wir ziemlich lange schweigend marschiert sind, fühlt sich der Kleidersack richtig schwer an.
“Wenn wir die Scheune erreicht haben, setzen wir ihn kurz mal ab”, sage ich.
Die Scheune oben auf dem Hügel sieht größer aus als tagsüber. Die Spitze des Daches verschwindet im schwarzen Himmel, das erinnert mich an die Hexenhäuser in den Bilderbüchern, die wir lesen. Vor der Scheunentür mit den
Weitere Kostenlose Bücher