Ich & Emma
eines der Hinterbeine. Aber über ihren Rücken ist ein Gurt gespannt, an dem ein Holzbein befestigt ist.
“Ist in eine Falle geraten. Vor vielen Jahren. Musste es absägen.”
Ich knie mich auf den Boden, um sie zu streicheln. Sie will offenbar Freundschaft schließen. Emma ist nun an meiner Seite und streichelt sie auch. Sie gurrt ununterbrochen ihren Namen, was der Hündin zu gefallen scheint.
“Hab nie gesehen, dass sie so freundlich zu Fremden ist”, sagt der alte Mann. Er hält das Gewehr auf den Boden gerichtet. “Sag mal, haste vielleicht Schweinefett in deiner Tasche oder was?” Und dann lächelt er. Und genauso wie ich an ihm den finstersten Blick meines Lebens gesehen habe, sehe ich jetzt das netteste Lächeln, das von all den Falten um seinen Mund noch betont wird.
“Ist wie ein Mensch, dieser Hund. Hab sonst niemanden mehr, es gibt nur sie und mich, und ich will verflucht sein, wenn sie nicht der beste Freund ist, den ich je hatte. Ich hab’ ihr das Holzbein geschnitzt, nach dem Unfall. Konnte nicht mit ansehen, wie sie vor dem Haus immer umgefallen ist. Ich hab auch eins.” Er zieht sein Hosenbein nach oben, damit wir sein Holzbein sehen können.
“Sind Sie ein Pirat?” fragt Emma. Darüber bin ich ganz froh, ich habe mich nämlich dasselbe gefragt. Andererseits weiß ich nicht, ob es Piraten in Wirklichkeit überhaupt gibt.
Der alte Mann lächelt wieder. “Nee. Hab nur mein Bein verloren, das is’ alles. Heiße übrigens Wilson.”
“Schön Sie kennen zu lernen, Mr. Wilson.” Mama wäre stolz auf meine guten Manieren.
“Kannst jederzeit Brownie besuchen kommen, die scheint dich ja richtig zu mögen, wie’s aussieht. Na gut, Hund. Lass sie nun gehen, ja?” Er klopft sich gegen sein gesundes Bein, damit die Hündin zu ihm kommt. Das tut sie auch, aber erst, nachdem sie noch ein paar Streicheleinheiten von uns bekommen hat.
“In welche Richtung wohnen die Bicketts?” fragt Emma.
“Da vorne geht’s links, dann noch drei Einfahrten, die vierte isses. Is’ nicht zu verpassen.”
“Wiedersehen!” rufen wir.
Er antwortet nicht, dreht sich nur um und geht wieder zurück, aber Brownie bleibt sitzen und sieht uns nach, ihr Schwanz zieht einen halben Kreis im Schmutz. Wenn ein Hund lächeln könnte, würde sie das jetzt tun. Und ich habe keine Ahnung, warum es mich so wütend macht, dass ein gewöhnlicher Hund so glücklich sein kann. Aber es ist nun mal so.
“Lass uns morgen zu Orla Mae gehen”, sage ich zu Emma, als wir wieder auf der Straße sind. “Ich hab plötzlich gar keine Lust mehr.”
“Was willst du dann machen?”
“Wir gehen besser zurück und schauen, was los ist.”
“Ach Mensch”, jammert sie, wirft den Kopf in den Nacken, schaut in den Himmel, ihre Arme hängen leblos herunter. “Aber ich will nicht.”
“Ich weiß. Ich auch nicht, aber wir müssen.”
“Glaubst du, wir kriegen ein richtiges Abendessen?” fragt sie. “Nach der Sache mit dem Honig?”
“Woher soll ich das wissen?”
Wir laufen eine Weile über den Asphalt. Dann sagt sie laut: “Du, Carrie? Glaubst du, Mama wird mich irgendwann so mögen wie dich?” Ihre Stimme klingt alt, während sie mich das fragt.
Ich glaube es nicht, aber das kann ich ja schlecht sagen. Ich meine, es ist eine Sache, selbst ganz genau zu wissen, dass Mama einen nicht sonderlich mag, aber eine ganz andere, wenn die Schwester das auch noch bestätigt.
“Klar”, antworte ich und wünschte, es wäre wahr.
“Was glaubst du, was passieren müsste?”
“Hm?”
“Damit sie mich mag.”
Mir fällt nichts ein, deswegen halte ich einfach den Mund, so wie Oma es mir immer gesagt hat, wenn sowieso nichts Gutes rauskommen kann. Nach ein paar Schritten schaue ich über die Schulter zurück zu ihr.
Sie wischt sich gerade die letzte Träne von der Wange.
8. KAPITEL
“S till!” Mama zischt mich über den Küchentisch an. “Du weckst Richard mit deinem Geplapper auf. Also, schau dir an, was ich geschrieben habe. Zweihundertfünfzig minus siebenundneunzig. Wie bekommen wir das raus?”
“Mama”, jammere ich. “Das ist so
einfach!
Zieh sieben von zehn ab, macht drei, nimm eins rüber, dann fünfzehn minus zehn, das ist fünf, wieder eins rüber, zieh eins von zwei ab und die Antwort ist hundertdreiundfünfzig. Siehst du? Einfach.”
Mama stützt die Stirn in die Hände und schweigt. Doch dann sagt sie mit gesenktem Kopf: “Miss Caroline Parker, ich habe kaum noch Nerven übrig und die strapazierst du
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