Ich & Emma
nicht.”
“Warte”, sagt er. “Wenn wieder Blut in deinen Fingern ist, versuchen wir es noch mal.”
“Aber heute ist es schwerer als gestern.”
“Nicht schwerer, Mädchen, deine Arme sind müde, das is’ alles. Nun wieder hoch damit und versuch’s noch einmal.”
In der Sekunde, in der die Dose sich in der Mitte der beiden Linien befindet, ziehe ich den Abzug, allerdings zu schnell. Weil meine Arme so müde sind, rutscht mir hinterher das Gewehr aus den Händen und fällt auf die Erde. Der Knall ist so laut, dass ich glaube, taub zu werden.
“Was zum Teufel?” ruft er. “Nimm das Gewehr aus dem Dreck, Mädchen. Ich dachte, du wolltest es noch mal versuchen. Mach es jetzt anständig sauber und gib es mir. So ist recht.”
Tränen brennen in meinen Augen.
“Ach, dreh’ nicht wieder den Wasserhahn auf.” Er verdreht die Augen zum Himmel. “Dieses Memmengehabe wird langsam langweilig. Hör auf damit, ich zeig dir noch mal, wie’s geht.”
Er nimmt das Gewehr auf, späht durch den Sucher und schießt, alles in einem Atemzug. Irgendwann will ich auch so gut werden. Ein Schuss, ein zweiter. Ich muss erst gar nicht zum Zaun rennen, um zu wissen, dass die Dosen mit frischen Löchern auf dem Boden liegen.
“Glauben Sie, ich kann das eines Tages auch?” rufe ich ihm hinterher, als er zum Zaun humpelt.
“Wenn du nicht wieder so’n Mist baust, dann bestimmt. Du musst nur was mit deiner Schulter machen. Muskeln bilden. Was is’n Haus schon wert, wenn’s nicht auf solidem Grund gebaut is’?”
“Wie soll ich denn stärker werden, wenn ich nicht mal das Gewehr richtig halten kann?”
Er schüttelt den Kopf und spuckt zur Seite. Dann zuckt er mit den Schultern, wobei sein ganzer Overall sich hebt und wieder senkt, so weit flattert er um seinen Körper.
“Darf ich noch mal?”
“Wieso meinst du, dass deine Arme jetzt plötzlich stark genug sind? Glaubst du, dir sind auf einmal Muskeln gewachsen?”
Jetzt zucke ich mit den Schultern und er lacht. Gackert, um genau zu sein.
“Na gut.” Er stellt sich hinter mich, reicht mir das Gewehr. “Denk dran …”
“Ich weiß, ich weiß”, seufze ich. “Die Dose ins Fadenkreuz, den Finger in den Abzug stecken und dann durchziehen.”
Meine Arme zittern noch immer, aber ich versuche, sie mit reiner Willenskraft zu beruhigen, was beinahe funktioniert. Zumindest lange genug, bis ich die Dose genau im Visier habe.
Peng!
Ich grinse schon, bevor ich das Gewehr absetze so wie es Mr. Wilson auch immer macht. Ich weiß, dass ich getroffen habe. Ich weiß es einfach.
Er gibt mir einen Klaps auf den Kopf. “Jetzt zum Zaun mit dir.”
Ich reiche ihm das Gewehr und renne los. Volltreffer!
“Wie alt sagtest du bist du?” fragt er mich.
“Ich bin acht, Sir.”
“Und du hast noch nie geschossen?”
“Nein, Sir.”
“Hat dein Daddy ein Gewehr?”
“Mein Daddy ist tot, Sir”, erinnere ich ihn. “Mein Stiefvater hat ein Gewehr, aber ich hab’s noch nie berührt.”
Er kratzt sich das Kinn so wie die Leute in Märchenbüchern. In Märchenbüchern tun das aber immer die Bösewichte, wenn sie sich neue Qualen für ihre Opfer überlegen. Ich glaube nicht, dass Mr. Wilson ein Bösewicht ist.
“Hm. Ich weiß einfach nicht, was ich mit dir machen soll, Kind.”
“Darf ich noch mal schießen?”
“Schätze ja. Aber vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt. Du musst lernen, wie man sich um ein Gewehr kümmert. Damit es sich dann hinterher um dich kümmern kann.”
“Was heißt das?”
“Komm”, seufzt er. “Am besten siehst du dir selbst an, was ich meine.”
Es ist nicht leicht zu wissen, was man tun soll, wenn man mit Mr. Wilson läuft. Ich könnte ihn natürlich jederzeit überholen, aber ich schätze, das würde ihm nicht gefallen, also laufe ich ein wenig versetzt hinter ihm, als ob es meine Idee wäre, mich so langsam zu bewegen.
Hinter seinem Haus befindet sich ein Schuppen, der mir zuvor nie aufgefallen ist. Scheint aus verrostetem Blech zu sein, so wie die Dosen. Durch zwei Metallösen ist eine Kette gezogen, an der wiederum ein riesiges Schloss hängt. Er zieht einen klirrenden Schlüsselbund aus der Overalltasche, geht einen Schlüssel nach dem anderen durch, bis er einen kleinen gefunden hat, der in seinen großen Händen irgendwie unecht aussieht. Mr. Wilsons Hände sind so groß wie Baseballhandschuhe.
Er öffnet das Schloss. “Hier”, sagt er.
Noch nie habe ich eine solche Dunkelheit gesehen. Ich blinzle,
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