Ich & Emma
“Ich krieg dich sowieso, wenn du wieder zurückkommst.”
Ich springe über Steine und Baumstämme und bin nicht mal außer Atem. Interessant, wie der Schmerz verschwindet, sobald man frei ist.
“Emma?” rufe ich, damit sie nicht glaubt, es ist Richard und wegläuft.
Beim Fluss angekommen beuge ich mich vor, weil ich jetzt doch außer Atem bin.
“Hier bin ich”, höre ich eine kleine Stimme.
Ich hebe den Kopf, kann sie aber nicht gleich sehen.
“Wo?”
“Hier drüben.”
Und da, auf einem glatten Felsen sitzt meine kleine Schwester, sie umklammert ihre Knie und wiegt sich vor und zurück. Auf den ersten Blick sehen die Verletzungen nicht so schlimm aus, aber als ich näher komme, entdecke ich getrocknetes Blut und mein Magen dreht sich um.
Ich tauche einen Zipfel meines Hemds ins Wasser, damit ich die Wunde sauber machen kann.
“Ich konnte dich nicht finden”, sagt sie und zuckt zusammen, als ich ihre Stirn berühre.
“Ich war drüben bei Mr. Wilson. Halt still. Woher hast du das?”
Dunkleres Blut ist auch in ihrem Haar auf dem Oberkopf. Als ich die Stelle abtupfe, weicht sie zurück.
“Warte, ich brauche noch mehr Wasser.” Ich springe von dem Felsen und tauche den anderen Hemdzipfel in den Bach.
“Bist du okay?” frage ich, als ich zurückkomme.
Sie ist so stumm wie der Felsen, auf dem sie sitzt. Ihre Schnürsenkel sind offen, ich binde sie wieder zu, mache einen Doppelknoten, so, wie sie es mag.
“Sag doch was.”
Tut sie aber nicht.
Ich kann ihr nicht tröstend durchs Haar streichen, weil es total verfilzt ist, deswegen fahre ich sanft über ihren Arm.
“Er hat seine Arbeit verloren”, sagt sie sehr leise.
“Was sagst du da?” Ich beuge mich vor zu ihren Lippen, damit ich sie besser verstehen kann, so leise spricht sie.
“Ich sagte, er hat seine Arbeit verloren.”
“Richard?”
“Wer sonst?”
“Weshalb?”
“Woher soll ich das wissen?”
“Weiß Mama das schon?”
Emma zuckt die Achseln. “Ich weiß nicht mal, wo Mama ist.”
“Ich auch nicht. Woher weißt du das mit seiner Arbeit?”
Sie schweigt, also ist es wohl unwichtig, woher sie es weiß. Irgendeinen Grund wird es schon haben.
“Ich glaube, wir sollten eine ganze Weile hier beim Diamantenfluss bleiben.” Was anders fällt mir nicht ein. Und dann habe ich plötzlich eine Idee.
“Wie wäre es, wenn wir Oma einen Brief schreiben?”
“Was?” Emma hebt ihren Kopf ein kleines bisschen.
“Wir könnten Oma bitten, für eine Weile zu uns zu kommen.” Jetzt, wo ich es ausspreche, scheint mir die Idee sogar noch besser als vorher zu sein. “Vielleicht gefällt es ihr hier besser als bei sich, und dann könnte sie bei uns wohnen.”
“Aber was ist mit Tante Lillibit? Oma kümmert sich doch um sie”, sagt Emma.
Tante Lillibit ist Mamas jüngere Schwester. Eigentlich heißt sie Elizabeth, aber jeder nennt sie nur Lillibit, nach dem Spitznamen, den Mama ihr als Kind gegeben hat. Oma wohnt bei ihr in der Nähe von Asheville, macht ihre Wäsche und putzt. Tante Lillibit scheint irgendwie immer krank zu sein. Als Kind begann Tante Lillibit zu keuchen, wenn sie gerannt ist. Der Doktor sagte, sie würde nicht lange leben, wenn sie es übertreibe, und deshalb hat sie es von diesem Tag an untertrieben. Und sie lebt immer noch. Mama und sie sind nie gut miteinander ausgekommen, weil Mama fand, dass Oma sie total verziehen würde. Daher meidet Mama die beiden auch seitdem ich denken kann. Oma hat uns früher ein paar Mal besucht, aber wenn ich die Augen zumache, kann ich mich nicht mehr erinnern, wie sie aussieht, so lange ist es schon her.
Aber da mir nichts Besseres einfällt, halte ich an der Idee fest.
“Oma könnte Mama doch genauso helfen wie Tante Lillibit. Und ich wette, Mama würde es dann viel besser gehen”, sage ich. Emmas Wunde hat aufgehört zu bluten, aber wenn man genau hinschaut, kann man eine große Beule auf ihrem Kopf sehen.
“Das mach’ ich. Ich werde ihr schreiben.”
“Wo willst du eine Briefmarke herbekommen?”
“Ich frage Mr. Wilson, wo die Post ist, und dann kaufe ich eine, Dummerchen. So geht das, wenn man was wegschicken will. Man geht zur Post.”
“Und ihre Adresse? Du weißt doch nicht, wo sie wohnt.”
“Ich weiß auf jeden Fall, dass sie in der Sycamore Street wohnt. Das hat sie nämlich immer wieder gesagt. Die Hausnummer weiß ich nicht, aber Avery Creek ist ein kleiner Ort – der Postbote wird das schon wissen.”
“Sie kommt sowieso nicht.” Emma
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