Ich & Emma
was sie sagt.
“Los jetzt, rein.” Sie deutet mit dem Kinn ins Haus.
“Mama?”
“Hm?”
“Gefällt es dir hier?”
Sie nimmt noch einen Schluck, zieht an der Zigarette, wartet eine Sekunde, bevor sie inhaliert. Sie schaut noch immer in den Wald.
“Manchmal geht es nicht darum, ob man was mag oder nicht”, sagt sie. “Manchmal ist es eben einfach, wie es ist. Da kann man nichts machen.”
“Werden wir hier für immer wohnen?” frage ich.
Ihre Hand verharrt in der Luft, dann legt sie sie auf die Lehne des Schaukelstuhls, in dem sie sitzt. Ihren Kopf hat sie abgewendet, während sie über meine Frage nachdenkt.
“Libby!” Richards Stimme zerschmettert die ruhige Luft zwischen uns.
Sie tritt die halb gerauchte Zigarette aus und stellt ihr Glas unter dem Stuhl ab.
“Mach jetzt deine Hausaufgaben.” Sie schiebt sich an mir vorbei in das Haus mit dem Loch im Dach. “Ich komme, ich komme.” Ihre Stimme entfernt sich immer weiter.
Ich blicke in die Richtung, in die sie gestarrt hat und entdecke, dass sie das alte Vogelhäuschen, das Daddy gebaut hat, lange bevor ich geboren wurde, an einen Baum genagelt hat. Ich schätze, das beantwortet meine Frage.
Emma liegt natürlich auf dem Bauch, als ich in unser Zimmer komme. Sie hat sich auf die Ellbogen gestützt und malt ein Bild.
“Hallo”, sage ich.
“Hallo.” Nach ihrer Stimme zu urteilen, tun die Striemen noch mehr weh.
“Was machst du?” Ich ziehe das T-Shirt über den Kopf, damit ich in meinen Schlafanzug schlüpfen kann.
“Malen.” Sie gähnt, und dann stellt sie endlich die Frage, die ihr schon die ganze Zeit auf der Zunge brennt. “Woher kannst du so gut schießen?”
Ich zucke mit den Schultern, muss aber zugeben, dass ich ziemlich stolz auf mich bin.
“Wie hast du das gemacht?” hakt sie nach.
“Wirklich, ich weiß es nicht.” Und das ist die Wahrheit.
“Wer ist Annie Oakeley?” Sie legt den Kopf schief, so wie Mama das immer macht. Bis jetzt ist mir das noch nie aufgefallen.
“Du weißt nicht, wer Annie Oakeley ist? Annie Oakeley? Das Cowgirl, das besser schießen konnte als jeder Mann? Sie gehört irgendwie zum Wilden Westen oder so. Sie trug immer Lederröcke mit ganz vielen Fransen, eine passende Lederjacke und ein Halstuch. Sie hat am schnellsten von allen geschossen.”
“Du hast aber keinen Fransenrock und keine Lederjacke.” Sie klingt, als hätte ich sie angelogen.
“Wieso? Das habe ich doch auch nie behauptet.”
“Mr. Wilson hat dich Annie Oakeley genannt. Aber du hast keine Fransen.”
“Das ist doch nur ein
Spitzname.”
Also wirklich. “Weißt du, was das ist? Ein
Spitzname.
Himmel!”
“Können wir morgen wieder zu ihm gehen, damit ich es auch mal probieren kann?”
Während ich meine Pyjamahose anziehe, denke ich eine Weile darüber nach. Meine Schulter schmerzt, als ich die Hosenbeine nach oben ziehe.
“Ich weiß nicht. Wir werden sehen.”
Es ist nicht leicht einem Mädchen etwas abzuschlagen, das rote Striemen auf dem Hintern hat.
“Mr. Wilson? Warum heben Sie die ganzen alten Zeitungen auf?” Ich beobachte ihn dabei, wie er drei Kugeln aus einer ramponierten Schachtel schüttelt, die er danach auf den Boden fallen lässt. Die restlichen Kugeln fallen heraus, ich hocke mich auf die Erde und sammle sie ein.
“Was schnüffelst du in meinen Sachen herum?” Er schiebt die erste Kugel in die kleine runde Kammer. “Meiner Meinung nach geht das Haus eines Mannes niemand etwas an.” Er dreht die Kammer für die nächste Kugel.
“Ich hab’ nicht geschnüffelt, ich wundere mich nur, das ist alles. Ich hab’ noch nie so viele Zeitungen auf einen Haufen gesehen.”
“So, heute musst du beweisen, dass du gestern nicht einfach Anfängerglück hattest.” Er winkt mich zu sich und übergibt mir das Gewehr wie gestern. Als ich es an meine Schulter drücke, stockt mir vor Schmerz fast der Atem. Aber nach einem Moment kann ich wieder ganz normal atmen.
“Tut weh, oder?” Offenbar habe ich das Gesicht verzogen. Mr. Wilson spuckt auf den Boden. “Geht gleich weg, keine Sorge. Geh ein klein bisschen in die Knie. Gut. Denk dran, du musst die Dose im Fadenkreuz sehen, bevor du schießt. Und dann kannst du feuern, wann immer du willst.”
Aber mein Arm zittert unter dem Gewicht des Gewehrs, ich kann das Fadenkreuz nicht richtig ausrichten.
“Es geht nicht.” Ich stelle das Gewehr ab, damit mein Arm sich ein wenig ausruhen kann. “Es ist zu schwer. Ich kann einfach
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