Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich & Emma

Ich & Emma

Titel: Ich & Emma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Flock
Vom Netzwerk:
mehr spüre. Hast du gut gemacht. Nun hör auf zu heulen wie eine Memme. Ich will meine Zeit nicht mit ’ner kleinen Memme verschwenden. Hör auf zu heulen. Ich sag doch, es ist alles in Ordnung.”
    Schniefend wische ich mir die Tränen weg, meine Hände riechen nach Metall und Rauch.
    “So, jetzt nimm das Gewehr wieder hoch.” Doch ich schüttle den Kopf. Ich will es nicht mehr.
    “Was? Noch mal? Aber ich hab’s doch fallen lassen. Ich hab’s überhaupt nicht respektiert.” Außerdem pocht meine Schulter heftig. Er soll aber nicht denken, dass ich eine Memme bin, darum sage ich es ihm nicht.
    “Nimm das Gewehr.” Seine Stimme ist ruppig. “Du lernst nie aus deinen Fehlern, wenn du sie nicht überwindest. Davon abgesehen fehlt da ‘ne Dose auf dem Zaun, und ich schätze, wir beide wissen, was das bedeutet.”
    Ich flitze zum Zaun, und er hat Recht! Ich habe die Dose getroffen!
    “Ruhig, Mädchen”, sagt er zu mir, aber Brownie denkt, er meint sie und wedelt schon wieder mit dem Schwanz. “Denk dran, es wird wieder einen ziemlichen Rückstoß geben, und du musst das Gewehr festhalten, egal, was passiert. Entspann dich, dann tut es nur ein kleines bisschen weh. Jetzt weißt du es ja vorher. Such jetzt die Dose im Fadenkreuz, siehst du sie? Gut. Jetzt kannst du abziehen, wann immer du magst.”
    Peng!
    Der Schmerz fährt mir diesmal scharf in den Nacken, aber als ich meine Augen öffne, sehe ich, dass ich das Gewehr immer noch fest in den Händen halte. Mr. Wilson pfeift leise durch die Zähne, Brownie springt auf und humpelt zum Zaun, als wüsste sie, dass das mein letzter Schuss war –
und das war er auch.
Wenn ich noch mal schieße, dann reißt es mir wahrscheinlich den Kopf ab, so weh, wie das tut.
    “Da brat mir einer ‘nen Storch”, ruft er vom Zaun aus zu mir herüber. “Komm her, Mädchen. Sieh dir an, was du gemacht hast.”
    Nur noch eine Dose ist übrig. Die anderen beiden liegen auf dem Boden, direkt unter seinen Einschusslöchern befinden sich zwei weitere.
    “Sieht so aus, als hätte ich da ein echtes Schießtalent entdeckt, was, Brownie?” Er streichelt ihren Kopf, als ob sie die Dose weggeschossen hätte. Er pfeift wieder durch die Zähne.
    “Ich habe
beide
getroffen?” Ich kann es nicht glauben.
    “Beide, du kleine Memme.”
    “Nennen Sie mich nicht so.”
    Sein Lachen klingt wie ein Hühnergackern. Er spuckt aus. “Schätze, ab sofort willst du Annie Oakley genannt werden! Los, komm mit zum Haus, Händewaschen, sonst bekomm ich’s mit deiner Mutter zu tun, und ich hab keine Lust mit der Mama einer kleinen Memme zu streiten.”
    Die Tatsache, dass ich gleich zweimal getroffen habe, lässt den Schmerz in meiner Schulter fast vollständig verschwinden.
    “Kann ich morgen wieder schießen?”
    “Mal sehen.” Er gackert wieder. “Mal sehen.”
    “Bitte, bitte! Ich möchte morgen wieder. Bitte, Mr. Wilson.”
    “Mal sehen, hab ich gesagt. Und jetzt rein.”
    Ich drücke die Fliegengittertür auf, als ob es meine wäre. Bis zur Küche zu kommen ist gar nicht so einfach, weil die Zimmer mit Papierstapeln voll gestopft sind. Ein schmaler Gang führt zwischen diesen Stapeln hindurch, man muss also über nichts drübersteigen. Aber trotzdem ist es nicht leicht, den Weg zu finden, weil kein Licht in die Zimmer kommt. Ich glaube, ich weiß jetzt, warum Mr. Wilson immer auf seiner Veranda sitzt … hier gibt es nämlich keine Stühle, keine Möbel. Nur diese Stöße aus Zeitungen und Zeitschriften und voll geschriebenem Papier. Ich frage mich, was er im Winter tut, wenn es zu kalt ist, um auf der Veranda zu sitzen.
    “Direkt neben dem Wasserhahn liegt die Seife”, ruft er mir hinterher. “Und wisch dir das Blut ab, wenn du schon mal dabei bist.”
    Ich schaue an mir herab, tatsächlich ist Blut an meiner Hand und auf meinem Arm. Ich drehe meinen Kopf und sehe, dass ich zwischen Hals und Schulter einen kleinen Schnitt habe. Mama bringt mich um. Immer ist sie hinter Richard her und schreit, er soll “dieses Ding rausschaffen”, wenn er sein Gewehr rausholt. Emma und ich dürfen nicht mal in seine Nähe kommen, auch nicht, wenn er es auseinander nimmt und reinigt. Es quietscht und quietscht, als ich den Wasserhahn aufdrehe. Ich muss lange drehen, bevor ein wenig Wasser heraustropft. Es ist rostfarben. Nach etwa einer Minute warte ich nicht länger darauf, dass es klar wird. Die Seife, von der Mr. Wilson sprach, ist braun. Keine Ahnung, ob sie schmutzig ist oder eben einfach nur

Weitere Kostenlose Bücher