Ich & Emma
erklingt eine Stimme aus dem hinteren Teil des Hauses. “Wie war’s in der Schule?”
“Gut. Ich habe Carrie Parker mitgebracht.”
“Das ist schön.”
“Kann sie mit uns zu Mittag essen?” Orla Mae hat mich gar nicht gefragt, aber ich vermute, Mama wird sowieso nicht auffallen, dass ich nicht zu Hause bin.
“Na klar. Essen ist gleich fertig. Fangt doch bis dahin schon mal mit euren Hausaufgaben an.”
Orla Mae verdreht die Augen. “Komm mit.”
Wir gehen zu einer Seitentür, auf der jeder freie Fleck mit Fotos bedeckt ist, Bilder von Babys, Hochzeiten, säuerlich dreinschauenden Leuten, die offenbar nicht daran gewöhnt sind, fotografiert zu werden.
“Wer ist das?” Ich deute auf einen Mann mit einem großen schwarzen Hut und einer runden Brille.
“Das ist mein Großpapa, der Vater von meinem Daddy. Er ist an der Ostküste aufgewachsen, Outer Banks. Er ist nie zur Schule gegangen, und dort gab es auch keine anderen Kinder, mit denen er hätte spielen können. Daddy sagt, er ist im Alter ziemlich verrückt geworden. Komm raus.”
Neben dem Haus gibt es eine kleine Hütte, Hühner laufen pickend eine Rampe hinauf und hinab.
“Das sind die dümmsten Lebewesen auf der Welt”, verkündet Orla Mae. “Schau mal. Jetzt füttere ich sie mit kleinen Steine. Ha! Sieh dir die da an, die merkt nicht mal, dass das kein Futter ist. Einmal habe ich ihnen Rührei gegeben, das haben sie auch gefressen. Weißt du, was das bedeutet? Dass sie Kannebels sind.”
“Du meinst Kannibalen”, sage ich.
“Warum musst du immer alles besser wissen?” Sie wirft den hungrigen Hühnern einen Holzspan hin. “Das machst du immer.”
“Nein, mache ich nicht.”
“Machst du wohl. Im Unterricht weißt du immer die richtige Antwort.”
“
Du
weißt die richtige Antwort. Ich glaube, du bist die Klügste von uns.”
“Aber klar.” Aber sie klingt, als würde sie mir nicht glauben.
“Habt ihr eure Schulbücher überhaupt schon mal aufgeschlagen?” ruf uns Mrs. Bickett durchs Fenster zu.
“Werden wir gleich, Mama!”
“Was hab ich euch gesagt? Ihr sollt eure Hausaufgaben machen! Da führt kein Weg vorbei. Vorher gibt’s kein Mittagessen!”
“Na los”, sage ich. Die Vorstellung, ohne einen Bissen im Magen wieder gehen zu müssen, lässt meine Knie weich werden. “Machen wir unsere Hausaufgaben.”
“Okay, Klugscheißer.”
“Bin ich nicht.”
“Bist du wohl.”
Wir seufzen beide laut, während wir zurück ins Haus gehen.
Dabei müssen wir gar nichts machen. Freddie Sprague hat Mr. Tyler nämlich an der Nase herumgeführt, indem er behauptete, wir hätten in unserem Englischbuch noch gar keine Aufgaben gelöst. Mr. Tyler hat uns daraufhin etwas aufgegeben, was wir schon längst gemacht haben. Wahrscheinlich ist Miss Ueland sehr überstürzt gegangen und konnte ihm nicht mehr sagen, was wir schon durchgenommen haben und was nicht.
Ich habe schon lange nicht mehr das Klappern von Töpfen und Geschirr aus einer Küche gehört. Ich finde es schön, dass sich mal jemand anders Gedanken macht, was wir essen sollen. Ich frage mich, was Emma wohl bekommt.
“Wir sind fertig, Mama.” Orla Mae läuft in die Küche, also gehe ich hinterher, vorbei an den Fotos mit den Gesichtern, die mich anstarren und daran erinnern, dass ich eine Fremde in diesem Haus bin.
“Gut. Hol doch bitte Salz und Pfeffer. Und Carrie, würdest du … oh. Was ist denn mit deiner Hand passiert, Liebes?”
“Nichts, Ma’am”, lüge ich. “Ich hatte nur einen Unfall und es tut auch nicht mehr weh.”
“Zeig mal.”
“Ist schon gut, Ma’am. Wirklich.”
Sie legt den Kopf schief. “Na gut. Kannst du damit das Besteck rausholen?”
“Ja, Ma’am. Selbstverständlich.”
Ich schlucke den Speichel herunter, der sich bei dem Essensduft in meinem Mund gesammelt hat.
“So, Mädchen, nun wascht euch jetzt die Hände. Und Carrie, sei vorsichtig mit deiner Hand! Die Wunde sieht ziemlich schlimm aus, pass auf, dass nicht zu viel Wasser drankommt.”
Ich hatte am Tag zuvor die letzten Eier gekocht, die wir noch hatten, denn Mama hat mir mal erklärt, dass das das Einzige ist, was man mit alten Eiern tun kann: kochen. Ich versuchte den Topf mit dem kochenden Wasser ganz ruhig zu halten, als ich ihn zum Waschbecken trug, aber er war zu schwer. Beinahe wäre er mir aus der Hand gerutscht, und dabei habe ich mich verbrannt. Mama sagt ja immer, wie ungeschickt ich bin.
“Orla Mae?” Mrs. Bickett macht es sich auf ihrem Stuhl
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