Ich & Emma
bequem. “Sprichst du heute das Tischgebet?”
Die beiden breiten ihre Servietten auf dem Schoß aus, also tue ich das auch.
“Komm Herr Jesu, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast. Segne außerdem unsere Freunde”, sie drückt meine Hand, als sie das sagt, “und unsere Familien” Vermutlich drückt sie in dem Moment die Hand ihrer Mutter, “und unser Heim. Amen.”
“Amen”, sagt Mrs. Bickett mit gesenktem Kopf.
“Amen”, murmle ich.
“Kannst du mir bitte die Butter geben?” fragt Mrs. Bickett. “Ach je, ich glaube, einige von uns haben furchtbaren Hunger”, fährt sie mit einem Blick auf mich fort. Ich habe mir bereits ein großes Stück Brathuhn in den Mund geschoben und mir den Gaumen verbrannt. Aber das ist mir egal. Noch nie hat mir Hühnchen so gut geschmeckt.
Orla Mae schmiert noch immer Butter auf ihr erstes Brötchen, als ich schon nach dem zweiten greife und es komplett in den Mund stopfe. Mit der anderen Hand schiebe ich Mais auf meine Gabel.
Ich weiß nicht, warum Mrs. Bickett nicht aufhört, mich anzustarren.
“Wie ist denn euer neuer Lehrer Mr. Tyler, Mädchen?” fragt sie schließlich und kaut dann sorgfältig auf einem kleinen Stückchen Huhn.
“Der ist in Ordnung”, sagt Orla Mae.
“Orla Mae, sprich nicht mit vollem Mund. Du bist doch nicht unter Wilden aufgewachsen.”
Als sie das sagt, schnappe ich mir ein weiteres Brötchen und lasse es auf die Serviette in meinem Schoß fallen. Etwas später stecke ich es für Emma in meine Jackentasche. Bis zum Ende des Essens habe ich drei Brötchen verstaut. Emmas Magen ist kleiner als meiner, drei sollten also reichen. Und was mich betrifft, ich bin gestopft wie eine Weihnachtsgans.
Wir räumen ab, und bevor Mrs. Bickett die Essensreste in den Mülleimer kratzen kann, klaue ich noch schnell den letzten Maiskolben, der nicht gegessen wurde. Der ist ziemlich fettig und wird meine Jacke verhunzen, aber egal. Man muss sich doch um seine kleinere Schwester kümmern.
“Danke für das Essen, Ma’am”, sage ich, nachdem wir die Töpfe und Pfannen abgetrocknet haben.
“Bitte, Carrie. Du kannst immer zu uns kommen, so oft du magst, Liebes.”
“Danke, Ma’am.”
“Bestell deiner Mutter schöne Grüße!” ruft sie mir nach.
“Mach ich, Ma’am”, schreie ich. “Auf Wiedersehen, Orla Mae.”
“Wiedersehen Klugscheißer.”
Meine Wangen röten sich, doch dann sehe ich, dass sie mich anlächelt.
Mit vollem Bauch scheint der Heimweg viel kürzer. Ich hüpfe sogar ab und zu hoch, wenn ich daran denke, wie sehr sich Emma über ihr Abendessen freuen wird. Doch aus dem Küchenfester dringt ein merkwürdiges Licht. Wie von einer Kerze. Wenn wir sonst in der Dunkelheit nach Hause kommen, ist immer das ganze Fenster erleuchtet, jetzt ist es nur das halbe. Das ist äußerst ungewöhnlich und beunruhigt mich irgendwie
Je näher ich komme, desto merkwürdiger wird mein Gefühl in der Magengegend.
“Mama?” Ich rufe nicht sehr laut, weil ich ja nicht weiß, was mich drinnen erwartet.
Als ich die Tür öffne, traue ich meinen Augen nicht. Alles ist durcheinander, fast so wie am Anfang, als wir hier ankamen.
“Ach, du lieber Gott im Himmel.” Ich sage das genau in dem Ton wie Mama, wenn sie mich und Emma bei etwas ertappt hat.
Ein Stuhl ist umgefallen. Unter meinen Schuhen knirschen Glassplitter. Und jetzt weiß ich auch, warum das Licht so merkwürdig ist – die Lampe ist umgestoßen worden und sieht aus, als würde sie ein Nickerchen auf dem Boden machen. Als ich den Raum durchquere, um sie wieder aufzustellen, muss ich über ein Sofakissen und die Scherben des Porzellangeschirrs steigen, das Oma uns als Familienerbstück gegeben hat.
“Mama?” Diesmal rufe ich lauter.
Das einzige Bild, das wir besitzen – mit Bilderrahmen und allem – liegt mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Es ist ein Foto von Mama und mir am Strand, als ich noch ganz winzig war. Daddy hat es gemacht, deshalb ist er nicht auf dem Bild zu sehen, das ist wohl gut so, denn sonst hätten wir es nie aufhängen können. Das hätte Richard niemals erlaubt.
Als ich mich herunterbeuge, um die Lampe aufzuheben, sehe ich sie.
“Mama!”
Blut läuft aus ihrem Kopf wie aus einer umgestoßenen Tasse. Ein Arm ist ganz verdreht. Ihr Hauskleid – das sie schon so lange trägt, dass die Rosen nicht mehr rot sondern blassrosa sind – ist fast bis zu ihrer Hüfte hochgeschoben.
“Mama?” flüstere ich, beuge mich über ihr Gesicht und
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