Ich finde dich
Mängelexemplar.«
»Autsch, besten Dank.«
Sie zuckte die Achseln. »Manche Männer verehren ihre alten Geliebten, andere – nicht viele, aber ein paar – zerfrisst die Sehnsucht förmlich. Und damit werden sie für eventuelle Nachfolgerinnen in erster Linie ewige Problemfälle.«
Ich sagte nichts.
»Diese Natalie Avery, die du plötzlich unbedingt finden musst«, sagte Shanta, »ist das deine alte Flamme?«
Wieso hätte ich in dem Punkt lügen sollen? »Ja.«
Sie blieb stehen und sah zu mir auf. »Und es schmerzt sehr?«
»Unvorstellbar.«
Shanta Newlin nickte, ging wieder los und ließ mich stehen. »Spätestens heute Abend bekommst du ihre Adresse.«
SIEBEN
I m Fernsehen kehrt der Polizist immer wieder an den Tatort zurück. Oder halt – wenn ich jetzt darüber nachdenke, war das doch eigentlich der Täter. Egal. Ich befand mich in einer Sackgasse, also hielt ich es für eine gute Idee, noch einmal dorthin zurückzukehren, wo alles begonnen hatte.
Zu den beiden Refugien in Vermont.
Von Lanford brauchte man nur eine Dreiviertelstunde bis zur Grenze nach Vermont, aber von dort waren es noch über zwei Stunden bis zu dem Ort, an dem Natalie und ich uns kennengelernt hatten. Der Norden Vermonts ist ländlich geprägt. Ich bin in Philadelphia aufgewachsen, und Natalie stammte aus den New Yorker Vororten im Norden New Jerseys. Das Landleben in dieser Form war uns fremd. Natürlich könnte ein objektiver Beobachter an dieser Stelle noch einmal darauf hinweisen, dass die Liebe an einem so abgeschiedenen Ort trügerisch sein kann. Ich könnte dem zustimmen oder anführen, dass in Abwesenheit anderer Zerstreuungsmöglichkeiten – wie zum Beispiel … sagen wir … allem – die Liebe unter dem Gewicht zu großer Zweisamkeit ersticken könnte. Und dass dies nicht geschah, könnte ich dann wiederum als Beleg dafür anführen, dass es sich um etwas viel Tiefgründigeres gehandelt haben musste als eine reine Sommerromanze.
Die Sonne senkte sich schon, als ich auf der Route 14 an meinem damaligen Refugium vorbeifuhr. Die knapp drei Hektar große ehemalige »Subsistenz-Farm« wurde vom »Writer-in-Residence« Darly Wanatick geführt, der unter anderem Kritiken über die Arbeit der Refugien-Bewohner verfasste. Für alle, die es nicht wissen: Subsistenzwirtschaft ist eine Form der Landwirtschaft, bei der die Bewohner auf der Farm gerade genug für sich selbst anbauen, so dass nichts für die Vermarktung übrig bleibt. Kurz gesagt: Man baut es an, man isst es und verkauft es nicht. Für alle, die nicht wissen, was ein Writer-in-Residence ist oder was ihn dazu qualifiziert, die Texte der Bewohner zu kritisieren: Nun, Darly gehörte das Grundstück, und er schrieb für das örtliche Anzeigenblatt, den Kraftboro Grocer , eine wöchentliche Einkaufs-Kolumne. Das Refugium beherbergte jeweils sechs Schriftsteller gleichzeitig. Jeder Schriftsteller hatte ein Schlafzimmer im Hauptgebäude und eine Hütte zum Arbeiten. Abends trafen sich alle zum gemeinsamen Essen. Das war auch schon alles. Es gab kein Internet, kein Fernsehen, kein Telefon, zwar elektrisches Licht, aber keine Autos und absolut keinen Luxus. Kühe, Schafe und Hühner liefen wild auf dem Grundstück herum. Anfangs war es wohltuend und entspannend, und ich genoss die elektronikfreie Abgeschiedenheit für ungefähr, na ja, drei Tage, dann fingen meine Gehirnzellen an einzurosten und den Dienst aufzugeben. Die zu Grunde liegende Theorie besagte offenbar, dass ein Autor, sobald man ihn dieser entsetzlichen Langeweile aussetzte, Rettung in seinem Notizheft oder seinem Laptop suchen und große Textmengen produzieren würde. Das funktionierte auch eine Weile, dann kam es mir vor, als hätte man mich in Einzelhaft gesperrt. Ich verbrachte einen ganzen Nachmittag damit, eine Ameisenkolonie zu beobachten, die Brotkrümel über den Boden meiner »Arbeitshütte« schleppte. Ich war so gefesselt von diesem Unterhaltungsprogramm, dass ich an strategischen Orten in den Zimmerecken weitere Brotkrümel platzierte, um neue Insekten-Staffellauf-Routen zu generieren.
Das Abendessen mit meinen Schriftstellerkollegen bot keine echte Atempause. Sie waren alle affektierte Pseudo-Intellektuelle, die den nächsten großen amerikanischen Roman schrieben, und wenn das Thema meiner nichtfiktionalen Dissertation aufgeworfen wurde, landete es mit einem Plopp wie ein großer Haufen Eselsdung auf dem alten Küchentisch, um dann geflissentlich ignoriert zu werden. Diese großen
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