Ich finde dich
dann.«
Ich zog mein Smartphone heraus.
»Was wollen Sie damit?«, fragte der Stämmige.
Ich richtete es auf ihn und drückte die Aufnahme-Taste. »Das ist eine Direktverbindung zu meinem Computer, Officer.« Das war gelogen. Das Video wurde nur im Handy gespeichert, aber Teufel noch mal. »Alles, was Sie sagen und tun, können meine Kollegen sich dort live ansehen.« Alles gelogen – aber gut gelogen. »Ich würde wirklich zu gern wissen, warum Sie mir so viele Fragen stellen und meinen Ausweis sehen wollen.«
Der Stämmige setzte die Sonnenbrille wieder auf, als könnte sie seine Wut verbergen. Seine Lippen waren so fest aufeinandergepresst, dass sie zitterten. Er gab mir mein Portemonnaie zurück und sagte: »Uns hat eine Beschwerde erreicht, dass Sie verbotenerweise ein Grundstück betreten hätten. Obwohl wir Sie auf privatem Grund und Boden angetroffen haben und Sie uns ein Märchen über ein nicht existierendes Refugium aufgetischt haben, lassen wir es bei einer Ermahnung bewenden. Bitte verlassen Sie das Grundstück. Einen schönen Tag noch.«
Der Stämmige und der Dünne gingen zurück zu ihrem Streifenwagen. Sie setzten sich hinein und warteten. Ich hatte keine Wahl. Ich stieg in meinen Wagen, ließ ihn an und fuhr davon.
ACHT
I ch fuhr nicht weit.
Ich fuhr in die Ortschaft Kraftboro. Sollte es hier jemals einen unerwarteten, massiven Investitionsschub geben, könnte der Ort sich mit sehr viel Glück auf das Niveau einer amerikanischen Kleinstadt erheben. So sah es hier aus wie die Kulisse eines alten Films. Ein Barbershop-Quartett mit Strohhüten, das singend durch die Straßen zog, hätte einen kaum überrascht. Es gab eine Gemischtwarenhandlung (auf dem Schild stand tatsächlich »Gemischtwaren«), eine alte Mühle mit einem (unbemannten) Besucherzentrum, eine Tankstelle, in der sich auch ein Friseur (mit einem einzigen Frisierstuhl) befand, und ein Buchladen mit Café. Der Buchladen war klein, daher konnte man dort nicht lange schmökern, aber in einer Ecke stand ein Tisch, an dem Natalie und ich oft gesessen, Zeitung gelesen und Kaffee getrunken hatten. Cookie, eine Bäckerin, die aus der großen Stadt geflohen war, und ihre Partnerin Denise führten den Laden. Sie hatten oft Redemption’s Son von Joseph Arthur oder 0 von Damien Rice gehört, und nach einer Weile hatten Natalie und ich angefangen, die Musik – Achtung, Kitschalarm – als »unsere« Alben zu bezeichnen. Ich fragte mich, ob Cookie immer noch da war. Cookie hatte Scones gebacken, die Natalie für die besten der Welt hielt. Andererseits fand Natalie alle Scones toll. Ich hingegen habe immer noch Schwierigkeiten, sie von altem, trockenem Brot zu unterscheiden.
Sehen Sie? Wir hatten auch unsere Meinungsverschiedenheiten.
Ich parkte am Ende der Straße und stapfte den Weg hinauf, den ich vor sechs Jahren heruntergetaumelt war. Der bewaldete Pfad war etwa hundert Meter lang. Auf der Lichtung sah ich die wohlbekannte weiße Kapelle am Rande des Grundstücks, von dem man mich gerade verwiesen hatte. Offenbar war gerade ein Gottesdienst oder ein Meeting beendet. Ich beobachtete, wie die Teilnehmer aus dem Gebäude kamen und blinzelnd ins Licht der untergehenden Sonne traten. Soweit ich wusste, war die Kapelle nicht konfessionsgebunden. Man könnte sagen, dass sie eher utilitaristisch als unitaristisch wirkte, eher wie ein zweckmäßiger Versammlungsort als wie ein Haus tiefer, religiöser Andacht.
Ich wartete, lächelte, als ob ich dazugehörte, und nickte wie die Liebenswürdigkeit in Person, als ungefähr zehn Personen an mir vorbei, und dann den Pfad hinuntergingen. Ich sah in ihre Gesichter, erkannte aber niemanden von vor sechs Jahren wieder, was ja eigentlich auch keine Überraschung war.
Eine große Frau mit strengem Dutt wartete auf den Stufen zur Kapelle. Weiter freundlich lächelnd ging ich auf sie zu.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.
Gute Frage. Was hatte ich hier zu finden gehofft? Es war ja nicht so, dass ich einen Plan hätte.
»Suchen Sie Reverend Kelly?«, fragte sie. »Der ist nämlich im Moment nicht da.«
»Arbeiten Sie hier?«, fragte ich.
»Gewissermaßen. Ich bin Lucy Cutting, die Schriftführerin. Es ist allerdings eine ehrenamtliche Tätigkeit.«
Ich rührte mich nicht.
»Kann ich irgendetwas für Sie tun?«
»Ich weiß nicht, wie ich es formulieren soll …«, fing ich an. »Vor sechs Jahren bin ich hier auf einer Hochzeit gewesen. Ich kannte die Braut, aber nicht den Bräutigam.«
Ihre
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