Ich finde dich
amerikanischen Romanautoren lasen gelegentlich aus ihren Werken. Die Werke waren prätentiöser, weitschweifiger, egozentrischer Humbug, in einer Prosa, die noch am besten Folgendes ausdrückte: »Seht mich an! Bitte seht mich endlich an!« Ich habe das natürlich nie laut ausgesprochen. Bei ihren Lesungen hatte ich eine Miene äußersten Entzückens aufgesetzt, ganz ruhig dagesessen und so in regelmäßigen Abständen genickt – einerseits, um weise und interessiert zu wirken, vor allem aber, um nicht einzuschlafen. Ein Autor namens Lars schrieb ein sechshundertseitiges Gedicht über die letzten Tage Adolf Hitlers im Führerbunker aus der Perspektive von Eva Brauns Hund. Der Anfang seiner Lesung bestand aus zehnminütigem Bellen.
»Es bringt die Leute in die richtige Stimmung«, erläuterte er, womit er recht hatte, wenn er damit meinte, seine Zuhörer in Stimmung zu bringen, ihm kräftig aufs Maul zu hauen.
Natalies Künstler-Refugium war anders. Es nannte sich The Creative Recharge Colony und hatte sehr viel eher die Aura einer hippieesken Müsli-, Hanf- und »Kumbaya«-Kommune. Die Künstler verbrachten ihre Pausen mit Arbeit im Bio-Garten (wobei die Künstler ihre Inspiration nicht nur aus den selbst angebauten Nahrungs mitteln zogen). Abends versammelten sie sich am Feuer und sangen Lieder von Frieden und Harmonie, bei denen selbst Joan Baez einen Würgreiz bekommen hätte. Interessanterweise brachten sie Fremden ein gewisses Misstrauen entgegen (was womöglich mit dem Kraut zusammenhing, das sie dort zusätzlich biologisch anbauten), und manche Angestellte traten sehr wachsam und gelegentlich sogar mit ausgeprägter Schärfe auf. Das Grundstück erstreckte sich über fast fünfzig Hektar, hatte ein Hauptgebäude, sehr komfortable Hütten – also kleine Häuschen mit Kaminen und Veranden –, einen Swimmingpool, der so gebaut war, dass er wie ein natürlicher Teich aussah, eine Cafeteria mit fantastischem Kaffee und einer großen Auswahl an Sandwiches, die alle wie Kaninchenfutter mit Hobelspänen schmeckten. Und an der Grenze zur Ortschaft Kraftboro stand eine weiße Kapelle, in der man sich, so es denn gewünscht war, vermählen lassen konnte.
Als Erstes fiel mir auf, dass die Einfahrt nicht mehr ausgeschildert war. Das bunt bemalte CREATIVE RECHARGE - Schild, das eher an ein Sommerlager für Kinder erinnerte, war verschwunden. Eine dicke Kette versperrte mir den Weg. Ich fuhr an den Straßenrand, stellte den Motor ab und stieg aus. Neben der Einfahrt standen mehrere BETRETEN VERBOTEN -Schilder, die dort allerdings auch damals schon gewesen waren. Die Kette und das fehlende Willkommensschild verliehen den Verbotsschildern jetzt jedoch eine gewisse Bedrohlichkeit.
Ich wusste nicht recht, was ich tun sollte.
Der Weg bis zum Hauptgebäude war knapp einen Kilometer lang. Ich konnte den Wagen hier stehen lassen, zu Fuß hingehen und nachsehen, was los war. Aber was hätte das gebracht? Ich war seit sechs Jahren nicht mehr hier gewesen. Wahrscheinlich war das Refugium verkauft worden, und der neue Eigentümer legte Wert auf Privatsphäre. Vielleicht war das alles.
Etwas seltsam kam es mir trotzdem vor.
Was würde es schon schaden, kurz hinzugehen und an die Tür des Hauptgebäudes zu klopfen? Andererseits waren die dicke Kette und die BETRETEN VERBOTEN -Schilder keine HERZLICH WILLKOMMEN -Fußmatte. Ich überlegte noch, was ich tun sollte, als ein Streifenwagen aus Kraftboro neben mir hielt. Zwei Polizisten stiegen aus. Einer war klein, stämmig mit aufgeblähten Fitnessstudio-Muskeln, der andere groß, dünn mit nach hinten gegelten Haaren und einem kleinen Stummfilmschauspieler-Schnurrbart. Beide trugen Piloten-Sonnenbrillen, so dass ich ihre Augen nicht sehen konnte.
Der Stämmige zog seine Hose kurz hoch und sagte: »Kann ich Ihnen helfen?«
Beide starrten mich mit strengen Blicken an. Zumindest nahm ich an, dass es strenge Blicke waren. Ich konnte ja ihre Augen nicht sehen.
»Ich wollte zum Creative-Recharge-Refugium.«
»Zum was?«, fragte der Stämmige. »Wieso?«
»Weil ich meiner Kreativität ein bisschen auf die Sprünge helfen wollte.«
»Sie halten sich wohl für besonders witzig.«
Seine Stimme klang etwas zu aggressiv, seine Haltung gefiel mir nicht, und ich wusste auch nicht, woher sie rührte, außer vielleicht, dass sie in einer Kleinstadt arbeiteten und ich, abgesehen von ein paar alkoholisierten Minderjährigen, vermutlich der Erste war, den sie drangsalieren konnten.
»Nein,
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