Ich finde dich
wissen, wo Professor Newlin ist.«
»Soso. Das wird ja immer interessanter. Sie wissen schon, dass sie verlobt ist, oder?«
Das hätte ich mir ja denken können. »Mrs Dinsmore …«
»Nun machen Sie sich mal nicht gleich ins Hemd. Sie ist mit ihrem Doktorandenseminar im Valentine frühstücken.«
Das Valentine war die Cafeteria auf dem Campus. Ich eilte über den Quad darauf zu. Es war eigenartig. Als Professor musste man immer ansprechbar sein. Man musste immer freundlich bleiben, jedem seiner Studenten zulächeln oder zuwinken. Man musste sich an jeden Namen erinnern. Man war auf eine seltsame Art prominent, wenn man auf dem Campus herumlief. Ich würde gern behaupten, dass es mir egal war, muss aber zugeben, dass ich die Aufmerksamkeit im Allgemeinen genoss und meine Rolle ziemlich ernst nahm. Also achtete ich selbst jetzt darauf, gehetzt, besorgt und unruhig, wie ich war, dass sich kein Student schlecht behandelt fühlte.
Ich mied die beiden großen Speisesäle. Die waren für die Studenten. Die Professoren, die ihnen manchmal Gesellschaft leisteten, kamen mir immer etwas verzweifelt vor. Ich hatte meine Grenzen, deren Verlauf zugegebenermaßen manchmal verschwommen, schwer erkennbar oder beliebig erscheinen mochte, trotzdem zog ich Grenzen und blieb auf meiner Seite. Professor Newlin, die in jeder Hinsicht spitze war, würde sich ähnlich verhalten, deshalb war ich sicher, dass sie sich mit ihren Doktoranden in einen der hinteren Speisesäle zurückgezogen hatte, die solchen Interaktionen zwischen Dozenten und Studenten vorbehalten waren.
Sie waren im Bradbeer-Saal. Auf dem Campus ist jedes Gebäude, jeder Raum, Stuhl, Tisch, jedes Regal und jeder Ziegel nach jemandem benannt, der irgendwann Geld gespendet hatte. Manche Leute reagierten gereizt darauf. Mir gefiel es. Diese efeugeschmückte Institution war auch so schon isoliert genug. Es schadet nichts, gelegentlich ein bisschen von der Welt da draußen, von der kalten, monetären Realität, hereinzulassen.
Ich spähte durchs Fenster hinein. Als Shanta Newlin mich sah, hob sie einen Finger, um mir zu sagen, dass sie noch eine Minute bräuchte. Ich nickte und wartete. Fünf Minuten später wurde die Tür geöffnet, und die Studenten strömten heraus. Shanta blieb im Eingang stehen. Nachdem alle Studenten gegangen waren, sagte sie: »Begleite mich ein paar Schritte. Ich muss noch wohin.«
Das tat ich. Shanta Newlin hatte einen der beeindruckendsten Lebensläufe, die ich je gesehen hatte. Sie hatte in Stanford ihren Abschluss gemacht, dabei ein Rhodes-Stipendium für ein Promotionsstudium bekommen, mit dem sie an der Columbia Law School Jura studiert hatte. Hinterher hatte sie sowohl für die CIA wie auch für das FBI gearbeitet, bevor sie unter der letzten Regierung als Staatssekretärin im Innenministerium tätig war.
»Also, was gibt’s?«
Mit einem kurzen Nicken forderte Shanta mich auf, mein Anliegen vorzubringen.
»Ich suche jemanden. Eine alte Freundin. Die üblichen Sachen habe ich schon probiert: Google, Verwandte anrufen und so weiter. Ich finde ihre Adresse nicht.«
»Und da hast du gedacht, ich könnte dir mit meinen alten Kontakten vielleicht helfen.«
»So in der Art«, sagte ich. »Na ja, eigentlich genau das.«
»Wie heißt sie?«
»Natalie Avery.«
»Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen? Hast du vielleicht noch eine alte Adresse?«
»Vor sechs Jahren.«
Shanta ging weiter mit militärischem Schritt, kerzengeradem Rücken und sehr schnell. »War sie die Eine, Jake?«
»Wie bitte?«
Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Weißt du, warum ich es nach unserem ersten Date nicht weiter probiert habe?«
»Das war kein richtiges Date«, sagte ich. »Es war eher ein ›Lass uns mal sehen, ob wir ein Date machen wollen‹-Date.«
»Was?«
»Vergiss es. Ich dachte, du hättest es nicht weiter probiert, weil du kein Interesse hattest.«
»Äh, das muss ich verneinen. Ich verrate dir, was ich an dem Abend gesehen habe: Du bist ein toller Typ, witzig, clever, mit Vollzeitjob und zum Sterben schönen blauen Augen. Weißt du, wie viele alleinstehende, heterosexuelle Männer ich kennengelernt habe, auf die diese Kriterien zutreffen?«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also hielt ich den Mund.
»Aber ich habe es gespürt. Vielleicht lernt man so etwas in der Ausbildung zum Polizeidienst. Ich achte auf die Körpersprache. Und ich bemerke viele Kleinigkeiten.«
»Was hast du gespürt?«
»Du bist ein
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