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Ich finde dich

Ich finde dich

Titel: Ich finde dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harlan Coben
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Dieses Mal dauerte es nicht lange. Julie wohnte in Ramsey, New Jersey. Ich notierte mir ihre Telefonnummer auf einem Zettel – genau wie Benedict bin auch ich manchmal ein bisschen altmodisch – und starrte sie an. Vor meinem Fenster hörte ich Studenten lachen. Es war Mitternacht. Zu spät für einen Anruf. Wahrscheinlich war es sowieso besser, eine Nacht darüber zu schlafen. In der Zwischenzeit musste ich Essays korrigieren und mich noch auf das morgige Seminar vorbereiten. Ich musste mich um mein Leben kümmern.
    Der Versuch einzuschlafen war zum Scheitern verurteilt. Ich konzentrierte mich auf die Korrekturen. Die meisten Essays waren zum Einschlafen langweilig und voraussagbar, geschrieben, um all die auswendig gelernten Vorgaben eines Highschool-Lehrers zu erfüllen. Unsere Studenten waren alle Spitzenschüler, die wussten, wie man auf der Highschool eine Einser-Arbeit schrieb – alle hatten eine Einleitung, einen klaren Satzbau, waren gut strukturiert und zeigten auch sonst alles, was einen Essay gut und so unglaublich langweilig machte. Wie schon erwähnt, besteht meine Arbeit darin, sie zum kritischen Denken zu erziehen. Das war mir schon immer wichtiger, als sie die Details der Philosophien von, sagen wir, Hobbes oder Locke lernen zu lassen. Die konnte man jederzeit nachlesen und sich so wieder ins Gedächtnis rufen. Ich legte eher Wert darauf, dass meine Studenten lernten, die Lehren von Hobbes und Locke zu respektieren, um sie dann komplett zu zerreißen. Sie sollten nicht nur über den Tellerrand schauen, sondern den Teller verlassen, indem sie ihn zerdepperten.
    Manche hatten das begriffen. Die meisten bisher nicht. Aber, hey, wenn sie das auf Anhieb richtig hinbekämen, was sollte ich ihnen dann noch beibringen?
    Um vier Uhr morgens ging ich ins Bett und tat so, als hätte der Schlaf eine Chance. Um sieben hatte ich eine Entscheidung getroffen. Ich würde Natalies Schwester anrufen. Ich erinnerte mich an ihr mechanisches Lächeln in der weißen Kapelle, ihr blasses Gesicht und wie sie die Frage gestellt hatte, ob es mir gut ginge, als würde sie verstehen, was in mir vorging. Sie könnte vielleicht sogar eine Verbündete sein.
    Egal, was hatte ich schon zu verlieren?
    Gestern Nacht war es für einen Anruf zu spät gewesen. Jetzt war es zu früh. Ich duschte und machte mich für mein Acht-Uhr-Seminar über das Rechtsstaatsprinzip in der Vitale Hall fertig. Ich würde Julie direkt nach dem Seminar anrufen.
    Ich hatte erwartet, das Seminar wie im Schlaf abhalten zu können. Natürlich war ich in Gedanken nicht bei der Sache, und ehrlich gesagt war acht Uhr für die meisten Studenten eigentlich auch zu früh. Heute jedoch nicht. Heute war die Gruppe besonders lebhaft, Hände schossen in die Höhe, gut formulierte Argumente und Gegenargumente wurden ohne Feindseligkeit vorgebracht. Ich ergriff natürlich nicht Partei. Ich moderierte und staunte. Die Studenten waren wie im Rausch. Im frühmorgendlichen Seminar schleppte sich der Sekundenzeiger häufig wie durch Sirup voran. Heute hätte ich die Hand ausstrecken und den verdammten Zeiger aufhalten wollen, damit er nicht so dahinraste. Die Studenten genossen jeden Moment. Die anderthalb Stunden vergingen wie im Flug, und mir wurde wieder einmal bewusst, was für ein Glück ich hatte, diesen Job zu haben.
    Glück im Beruf, Pech in der Liebe. Oder so ähnlich.
    Ich ging zu meinem Büro im Clark House, um dort zu telefonieren. Vor Mrs Dinsmores Schreibtisch blieb ich stehen und bedachte sie mit meinem besten »Verführer«-Lächeln. Sie runzelte die Stirn und sagte: »Und so was klappt heutzutage bei alleinstehenden Frauen?«
    »Was, dieses bezaubernde Lächeln?«
    »Ja.«
    »Manchmal«, sagte ich.
    Sie schüttelte den Kopf. »Und da erzählen sie einem immer, man solle sich keine Sorgen über die Zukunft machen.« Mrs Dinsmore seufzte und rückte einen Papierstapel zurecht. »Okay, tun wir einfach mal so, als wäre ich jetzt ganz heiß und erregt. Was wollen Sie?«
    Ich versuchte, das Bild der heißen und erregten Mrs Dinsmore wieder aus dem Kopf zu bekommen. Es war nicht einfach. »Ich muss mir eine Studentenakte ansehen.«
    »Haben Sie die Erlaubnis des Studenten?«
    »Nein.«
    »Daher das bezaubernde Lächeln.«
    »Exakt.«
    »Ist es einer Ihrer aktuellen Studenten?«
    Ich erneuerte das Lächeln. »Nein. Er hat nie bei mir studiert.«
    Sie zog eine Augenbraue hoch.
    »Genaugenommen hat er vor zwanzig Jahren seinen Abschluss gemacht.«
    »Das soll jetzt

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