Ich finde dich
– die weiße Kapelle, ihre Frisur, ihr Ringfinger vor meinem Gesicht, der Schmerz, die Sehnsucht, die Emotionen, die Liebe, das Leid. Ich bekam weiche Knie. Ich hatte gedacht, dass ich mich nicht mehr nach ihr sehnte. Sie hatte mich damals zerschmettert, aber ich hatte die Einzelteile aufgesammelt, mich wieder zusammengesetzt und mein Leben fortgesetzt.
Wie dumm von mir, jetzt so etwas zu denken. Wie selbstsüchtig und unangebracht. Die Frau hatte gerade ihren Mann verloren, und ich Schwein dachte nur daran, was das für mich bedeuten könnte. Lass gut sein, sagte ich mir. Vergiss es und sie. Lass die Vergangenheit ruhen.
Aber das konnte ich nicht. Es war einfach nicht meine Art.
Das letzte Mal hatte ich Natalie auf einer Hochzeit gesehen. Jetzt würde ich sie auf einer Beerdigung wiedersehen. Manche Leute mögen darin eine gewisse Ironie des Schicksals erkennen – ich gehörte nicht dazu.
Ich ging zurück zum Computer und buchte einen Flug nach Savannah.
DREI
D as erste Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmte, zeigte sich während der Grabrede.
Palmetto Bluff war eigentlich kein Ort, sondern eine riesige bewachte Wohnanlage. Das neu erbaute »Dorf« war hübsch, sauber, gepflegt und historisch korrekt – was dem Ort ein steriles, falsches Disney-Flair verlieh. Alles wirkte ein wenig zu perfekt. Die strahlende weiße Kapelle – ja, noch so eine – lag so malerisch am Hang, dass sie … tja … wie gemalt aussah. Die Hitze hingegen war nur zu real – ein lebendes, atmendes Etwas wie ein schwüler, feuchtwarmer Vorhang.
In einem flüchtigen Moment der Vernunft fragte ich mich noch einmal, warum ich hier runtergekommen war, wischte dann jedoch alle Zweifel beiseite. Schließlich war ich schon hier, damit hatte sich die Frage erledigt. Das Inn von Palmetto Bluff sah aus wie eine Filmkulisse. Ich trat in die hübsche Bar und bestellte bei der hübschen Bardame einen Scotch ohne Wasser und ohne Eis.
»Sind Sie wegen der Beerdigung hier?«, fragte sie.
»Ja.«
»Tragisch.«
Ich nickte und starrte in meinen Whisky. Die hübsche Bardame verstand den Hinweis und stellte keine weiteren Fragen.
Ich bin stolz darauf, ein aufgeklärter Mensch zu sein. Ich glaube nicht an Schicksal, Bestimmung oder sonstigen abergläubischen Hokuspokus, trotzdem saß ich hier und rechtfertigte mein impulsives Verhalten genau damit. Ich musste hier sein, sagte ich mir. Etwas hatte mich gezwungen, in dieses Flugzeug zu steigen. Warum, wusste ich nicht. Ich hatte mit eigenen Augen gesehen, wie Natalie einen anderen Mann heiratete, und trotzdem konnte ich es nicht akzeptieren. Es war der intuitive Wunsch, einen Schlussstrich zu ziehen. Vor sechs Jahren hatte Natalie mich mit einer kurzen Notiz abserviert, in der stand, dass sie ihren alten Verehrer heiraten würde. Am nächsten Tag hatte ich die Einladung zu ihrer Hochzeit bekommen. Kein Wunder, dass sich das alles irgendwie … unvollständig anfühlte. Und jetzt war ich hier, in der Hoffnung, vielleicht einen Schlussstrich ziehen, zumindest aber das Bild vervollständigen zu können.
Faszinierend, welch vernünftige Begründungen wir finden, wenn wir etwas unbedingt wollten.
Aber was genau wollte ich hier eigentlich?
Ich trank meinen Scotch aus, bedankte mich bei der hübschen Bardame und machte mich auf den Weg zur Kapelle. Natürlich hielt ich Abstand – ich mag zwar furchtbar, gefühllos und selbstsüchtig sein, aber doch nicht so sehr, dass ich eine trauernde Witwe beim Begräbnis ihres Ehemanns störte. Ich stellte mich hinter einen großen Baum – genauer gesagt, hinter eine der großen Fächerpalmen, denen der Ort seinen Namen verdankte – und traute mich noch nicht einmal, die Trauergäste mit verstohlenen Blicken zu betrachten.
Als das Eröffnungslied erklang, ging ich davon aus, dass die Luft halbwegs rein war. Ein kurzer Blick bestätigte meine Vermutung. Die Trauergemeinde war in der Kapelle. Ich näherte mich der Eingangstür und hörte einen Gospelchor singen. Er war, kurz gesagt, großartig. Unsicher, was genau ich tun sollte, drückte ich vorsichtig gegen die Tür zur Kapelle, die natürlich unverschlossen war – was hatte ich auch erwartet? Also ging ich hinein. Beim Eintreten senkte ich den Kopf und hielt mir eine Hand vors Gesicht, als müsste ich mich kratzen.
Eine wahrlich armselige Vorstellung.
Und außerdem völlig überflüssig. Die Kapelle war rappelvoll. Ich stand hinten bei den anderen Spätankömmlingen, die keinen Platz mehr gefunden
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