Ich finde dich
hatten. Der Chor beendete die ergreifende Hymne, und ein Mann – ein Pfarrer, Priester oder was auch immer – trat in die Kanzel. Er begann, Todd als »fürsorglichen Arzt, guten Nachbarn, großzügigen Freund und wunderbaren Familienvater« zu preisen. Arzt? Das hatte ich nicht gewusst. Der Geistliche schwärmte weiter über Todds Stärken – seine Wohltätigkeitsarbeit, seine einnehmende Persönlichkeit, seinen offenen Geist, die Fähigkeit, jedem das Gefühl zu geben, etwas Besonderes zu sein, seine Bereitschaft, die Ärmel hochzukrempeln und anzupacken, wenn jemand Hilfe brauchte, ganz egal, ob er ein Freund oder ein Fremder war. Ich verbuchte das natürlich unter der üblichen Begräbnis-Märchenstunde, aber ich sah, dass den Trauernden Tränen in den Augen standen und dass sie bei den Worten des Geistlichen leicht nickten, als wäre es ein Lied, das nur sie hörten.
Ich versuchte, von meinem Platz hinten in der Kapelle einen Blick auf Natalie zu erhaschen. Aber es waren zu viele Köpfe im Weg, und da ich nicht auffallen wollte, duckte ich mich wieder. Ich war in die Kapelle gekommen, hatte mich umgesehen und mir sogar die lobenden Worte über den Verstorbenen angehört. Reichte das nicht? Was wollte ich hier noch?
Es war Zeit zu gehen.
»Die erste Trauerrede«, sagte der Mann in der Kanzel, »hält jetzt Eric Sanderson.«
Ein blasser Teenager – ich hätte ihn auf sechzehn Jahre geschätzt – stand auf und trat aufs Podium. Mein erster Gedanke war, dass Eric Todd Sandersons (und damit auch Natalies) Neffe sein musste, aber diese These wurde bereits durch den Eröffnungssatz des Jungen torpediert.
»Mein Vater war mein Held …«
Vater?
Ich brauchte ein paar Sekunden. Die Gedanken sind nur schwer davon abzubringen, sich immer entlang derselben ausgetretenen Wege zu bewegen. Als ich jung war, hatte mein Vater versucht, mich mit einem alten Rätsel in die Irre zu führen. »Ein Mann und sein Sohn haben einen Autounfall. Der Vater stirbt. Der Junge wird ins Krankenhaus gebracht. Der diensthabende Chirurg lehnt es ab, ihn zu operieren, weil er sein Sohn sei. Wie ist das möglich?« Das meine ich, wenn ich von ausgetretenen Wegen rede. Für die Generation meines Vaters war dieses Rätsel vermutlich mittelmäßig schwer, für jemanden meines Alters war die Antwort – der diensthabende Chirurg ist eine Chirurgin und die Mutter des Jungen – so offensichtlich, dass ich schon damals laut aufgelacht hatte. »Und jetzt, Dad? Spielst du mir etwas von deinen 8-Spur-Kassetten vor?«
Hier war es ähnlich. Wie konnte ein Mann, der erst sechs Jahre mit Natalie verheiratet war, einen Sohn im Teenageralter haben? Antwort: Eric war Todds Sohn, nicht Natalies. Entweder war Todd vorher schon einmal verheiratet, zumindest aber hatte er ein Kind mit einer anderen Frau.
Wieder versuchte ich, Natalie in der ersten Reihe zu entdecken. Ich reckte den Hals, doch dann seufzte die Frau neben mir verärgert, weil sie sich gestört fühlte. Auf dem Podium drehte Eric noch einmal richtig auf. Er sprach so eindringlich und bewegend, dass in der ganzen Kapelle kein Auge trocken blieb. Na ja, außer meinen.
Und weiter? Sollte ich hier einfach stehen bleiben, der Witwe mein Beileid aussprechen … sie dadurch vollkommen aus dem Konzept bringen und sie in ihrer Trauer stören? Wie stand mein selbstsüchtiges Ich dazu? Wollte ich ihr wirklich in die Augen sehen, während sie den Verlust der Liebe ihres Lebens beweinte?
Wohl eher nicht. Ich sah auf die Uhr. Mein Rückflug ging heute Abend. Ja, schnell rein und wieder raus. Kein Chaos, kein Getue, keine Übernachtung, keine Hotelkosten. Die Billigversion eines Schlussstrichs.
Natürlich würden manche Leute mutmaßen, ich hätte unsere Affäre unverhältnismäßig idealisiert. Das wäre verständlich. Objektiv betrachtet könnte da durchaus etwas dran sein. Doch das Herz ist nicht objektiv. Als jemand, der die großen Denker, Theoretiker und Philosophen unserer Zeit verehrt, würde ich mich niemals dazu herablassen, ein so abgedroschenes Axiom zu bemühen wie: Ich weiß es einfach . Tatsache ist aber, dass ich es weiß . Ich weiß, was zwischen Natalie und mir passiert ist. Ich sehe es mit klarem Blick, ganz ohne rosarote Brille, und genau deshalb ergibt das, was sich dann entwickelt hat, keinen Sinn.
Mit anderen Worten, ich begriff immer noch nicht, was da geschehen war.
Als Eric zu Ende gesprochen hatte und wieder Platz nahm, hallte noch eine Zeitlang leises Schniefen und
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