Ich gegen Osborne
eine kleine Ewigkeit bei.
»Was machen Sie gerade?«, fragte sie schließlich.
»Wir warten die zehn Minuten«, sagte Stephanie.
»Genaaau. Und Sie haben noch nicht mit Teil B begonnen, weil…?«
»Äh«, sagte Stephanie. »Ich wusste nicht…«
»Ich sagte Ihnen allen, Sie könnten sich mit Chromaten und Dichromaten befassen, während Sie darauf warten, [77] dass sich die Kristalle umformen.« Das alles richtete sie an Stephanie. (Ms. Calaway war berüchtigt dafür, Jungs zu bevorzugen.) »Ich habe euch nicht gesagt, dass ihr rumstehen, zehn Minuten warten und nichts tun sollt.«
»Das war mein Fehler«, sagte ich. »Ich habe es ihr falsch gesagt. Das war unüberlegt von mir.«
»Machen Sie mit Teil B weiter.«
»Jawohl, Ma’am«, sagte ich, und sie ging weiter.
»Danke.«
»Gern geschehen.«
»Das war wirklich lieb von dir. Sie ist ein echtes Biest. «
Ich bereute mein ritterliches Verhalten bereits, weil die Wahrscheinlichkeit immer noch groß war, dass ich die Toilette aufsuchen musste, und ich mir Sorgen machte, wie dieser Zwischenfall Ms. Calaways Entscheidung beeinflussen würde, wenn ich sie um Erlaubnis bat.
Ich blies dezent auf meine Fingerspitzen, während ich die Anweisungen für den nächsten Versuchsteil las. Dann sah ich aus den Augenwinkeln, dass Stephanie abwechselnd las und mich ansah. Mir kam der Gedanke, dass sie eventuell überlegte, ob ich in Betracht kam. Hier stand ein Mann vor ihr, der imstande war, sie wie eine Dame zu behandeln. Mir gefiel zwar die Vorstellung, in Betracht gezogen zu werden, ich wusste aber nicht recht, wie ich damit umgehen sollte. »Und…«, sagte ich, ohne zu wissen, warum ich das sagte.
»Und«, äffte sie mich scherzhaft nach. Und dann, wie aus dem Nichts: »Du und Chloe Gummere, seid ihr denn nicht zusammen, ich meine befreundet?«
[78] 8 . 59 Ich für meinen Teil hätte nie ein so profanes Wort wie »Freundin« verwendet, um Chloe zu beschreiben. Als ich sie in unserem dritten Highschool-Jahr das erste Mal in Mr. Ottmans Kurs Kunst III kommen sah, machte mein Herz einen freudigen, Fred-Astaire-mäßigen Satz; Freundschaft kam von Anfang an nicht in Frage. Sie war soeben von St. Clement’s gewechselt, einer katholischen Privatschule im Nachbarort. Am ersten Tag trug sie einen schwarzen Bleistiftrock aus Tweed. Nicht jeder war mit ihrem Modegeschmack einverstanden; später erzählte sie mir, dass sich viele Mädchen über sie lustig machten. Auch ihr ganzes Auftreten gefiel mir. Aus ihren Bewegungen sprach keinerlei Selbstsicherheit, was, wie ich später herausfand, nicht daran lag, dass es ihr erster Tag in einer neuen Schule war. Der Grund war vielmehr, dass sie sich überall unbehaglich fühlte, genau wie ich.
Im Kunstkurs gab es eine festgelegte Sitzordnung, und Mr. Ottman brachte uns am jeweils anderen Ende des Raums unter. Doch ich spähte bei jeder Gelegenheit zu ihr rüber. Mehrere Tage vergingen, bis mir ihre Ticks auffielen.
Sie zuckte zwanghaft mit den Schultern, manchmal nur mit einer, dann wieder mit beiden, und manchmal wurde das Zucken von einem raschen, beinahe unmerklichen Kopfrucken begleitet. Auch blinzelte sie mehr, als man für normal halten würde. Als ich quer durch den Raum sah, wie ihr Körper im Zehnminutentakt all das gegen ihren Willen tat, fand ich sie sogar noch attraktiver. So eine wie sie war mir noch nie begegnet.
Während des gesamten Halbjahres bemühte ich mich ungeschickt um sie. Wenn sie zum Schrank ging, um [79] Materialien zu holen, tauchte ich hinter ihr auf und sagte: »Dein Outfit gefällt mir.« Dann lächelte sie, bedankte sich und verriet mir, wo sie es gekauft hatte – meist bei Marshall’s, T. J. Maxx oder in Secondhandläden –, doch unsere Gespräche beschränkten sich immer auf den flüchtigen Austausch von Smalltalk. Manchmal machte sie mir ein Kompliment über meine Schuhe. Mittlerweile hatte ich angefangen, meine schwarzen Abendschuhe zu tragen; der komplette Anzug war erst im folgenden Januar an der Reihe.
Irgendwann erfuhr ich, dass Chloe strenge Eltern hatte, die ihr nicht mal erlaubten, mit irgendwem auszugehen. Dieser Klatsch samt der Tatsache, dass sich ein anderes Mädchen vorübergehend für mich interessierte, bewirkte, dass ich meine Bemühungen um Chloe zeitweise einstellte. Außerdem ließ Chloe nicht erkennen, dass sie mich mochte.
Als wir nach den Sommerferien zu unserem letzten Schuljahr in die Schule zurückkehrten, entdeckte ich zu meiner Freude, dass
Weitere Kostenlose Bücher