Ich gestehe
keine Sonne?«
Ich sah zu Boden. »Doch«, sagte ich leise. »Es sind familiäre Sorgen.« Ich blickte auf und zwang mich zu einem Lächeln. »Aber ich bin auch froh, wieder hier zu sein. Ich habe in den Tagen viel an Sie denken müssen.«
»Wirklich, Fräulein Doktor?« Sein Gesicht glänzte.
»Ja, bestimmt. Sie sind sozusagen mein Lieblingspatient. Sie waren die erste große Narkose, die ich machte.«
So plauderten wir weiter, während ich bei ihm am Bett saß und mir von ihm die Fotos seiner verwegenen Autokunststücke ansah. Draußen, auf dem Gang, hörte ich Stimmen und viele Schritte. Türen klappten, Stimmen von Schwestern, Ärzten – die Abendvisite.
Jetzt – oder es ist zu spät, dachte ich. Ich beugte mich zu Senlis hinüber und lauschte gleichzeitig zur Tür. Sie waren im Nebenzimmer … ich hörte eine Stimme … Gaston … er machte allein die Visite. Bocchanini war also schon nach Hause gefahren. Eine Stunde, wie sie günstiger nicht sein konnte!
Die Tür des Nebenraumes klappte zu. Schritte … ein Griff an die Klinke …
In diesem Augenblick beugte ich mich tiefer über Senlis und küßte ihn auf den Mund. Meine Lippen berührten ihn gerade, als die Tür geöffnet wurde.
Ich fuhr zurück, sagte »Oh!« und sprang auf.
Gaston stand in der Tür. Sein Gesicht war wie versteinert – er überblickte sofort die Lage, sah meine Verlegenheit, übersah Senlis' verzeihendes Lächeln (es war ein verblüfftes Lächeln, aber das konnte Gaston ja nicht wissen), bemerkte, wie ich die Hände am Kleid rieb und er schloß brüsk wieder die Tür, ohne das Zimmer betreten zu haben. Ich hörte, wie sich sein Schritt schnell entfernte.
Senlis lag verblüfft in den Kissen und schüttelte den Kopf.
»Sie haben mich geküßt?« fragte er, als habe er noch gar nicht begriffen, was geschehen war. »Sie haben mich wirklich geküßt, Fräulein Doktor?«
»Ja.« Ich schluckte tapfer meinen Triumph und meine Erregung herunter und nickte. »Es war ein kleiner Dank.«
»Dank? Wofür?«
»Daß es Ihnen so gut geht, Monsieur Senlis. Da Sie meine erste große Narkose waren und trotzdem weiterleben …« ich lachte ein wenig dabei – »… haben Sie mir Mut gemacht, so weiterzumachen wie bisher.«
Ich drückte ihm die Hand und verließ schnell das Zimmer, ehe er etwas antworten konnte. Auf dem Flur traf ich Gaston, der am Ende des Ganges vor seinem Zimmer wartete. Ich ging an ihm vorbei, aber er hielt mich am Ärmel fest und zog mich zu sich heran.
»Habe ich eben richtig gesehen?« sagte er gepreßt. »Du hast Senlis geküßt?«
»Ja.«
»Richtig geküßt?«
»Du solltest wissen, daß – wenn ich küsse – ich es richtig tue!«
»Und du liebst diesen Senlis? Diesen … diesen … Schausteller?«
»Warum nicht? Er hat einen blendenden Körper. Er fiel mir schon auf, als er nackt auf dem OP-Tisch lag! So etwas kann eine Frau blind machen.«
Gaston sagte nichts darauf, aber er holte aus, weit flog sein Arm zurück, und dann schlug er mich ins Gesicht, daß ich gegen die Wand taumelte und instinktiv beide Hände schützend vor das Gesicht hielt.
Eine Tür klappte. Als ich die Augen wieder öffnete, war ich allein. Gaston war in sein Zimmer gegangen.
Er hat mich geschlagen, schrie es in mir. Er hat mich richtig geschlagen! Er ist eifersüchtig, er ist blind vor Eifersucht! Er ist wahnsinnig!
Nie hat mich ein Schlag so erfreut, so glücklich gemacht wie diese Mißhandlung durch Gaston!
Eines meiner Ziele war erreicht – nun noch das Gift, und der immer rätselhaft bleibende Haß einer Frau war gestillt!
Das Gift! Heute nacht wollte ich es holen.
Ich ging auf mein Zimmer in der Klinik und schloß mich ein. Ich mußte mich sammeln, ich mußte mir innerlich Kraft geben, denn jetzt stand ich an der Schwelle eines neuen Lebens, das belastet sein würde mit dem Tod der Schwester und des Geliebten.
Ich ließ zu Hause durch den Hausmeister an Brigit bestellen, daß ich in der Klinik bleiben würde. Sie solle nicht auf mich warten. Ich wußte dabei, daß sie nachher Gaston am Palais Chaillot treffen würde, daß sie ausgingen und daß ihr Gaston erzählen würde, daß er mich bei Senlis überrascht hatte.
Brigit würde das zum Anlaß nehmen, auf mich zu schimpfen und sich Gaston noch mehr an den Hals zu werfen. Alles, alles wußte ich. Ich kannte genau den Hergang der weiteren Entwicklung, aber es berührte mich nicht mehr. Alles stand bereits abseits meines Lebens – ich konnte die Dinge aus einer fernen Schau
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