Ich hab dich im Gefühl
aber mittendrin.«
Ein Punkt für ihn.
»Aber nur, weil du an mein Handy gegangen bist.«
Zwei zu eins für mich.
»Du warst den ganzen Morgen verschwunden – was hätte ich denn machen sollen – es ignorieren?«
Zwei beide.
»Er hat sich Sorgen gemacht deinetwegen«, fährt er fort. »Er meint, du solltest dir Hilfe suchen. Bei einem Profi.«
Na toll.
»Ach wirklich?« Ich verschränke die Arme vor der Brust. Am liebsten würde ich Conor auf der Stelle anrufen und ihm all die Dinge an den Kopf werfen, die ich an ihm hasse und die mich schon immer genervt haben. Dass er sich die Zehennägel im Bett geschnitten hat, dass er jeden Morgen die Nase putzt, und zwar so laut, dass das ganze Haus wackelt. Dass er anderen Leuten ständig ins Wort fällt. Sein blöder Partytrick mit der Münze, den ich schon beim ersten Mal nicht lustig fand, auch wenn ich mir immer ein Lachen abgerungen habe. Seine Unfähigkeit, sich hinzusetzen und sich mit mir vernünftig über unsere Probleme zu unterhalten. Dass er ständig einfach abgedampft ist, wenn wir uns gestritten haben … Dad unterbricht meine lautlose Conor-Folter.
»Er hat gesagt, du hast ihn mitten in der Nacht angerufen und Latein gebrabbelt.«
»Wirklich?« Die Wut steigt weiter. »Was hast du dazu gesagt?«
Er schaut aus dem Fenster, während das Flugzeug auf der Startbahn Tempo zulegt.
»Ich hab ihm gesagt, dass du auch einen ganz hübschen fließend Italienisch sprechenden Wikinger abgegeben hast.« Auf einmal sehe ich, wie sein Gesicht sich verzieht, und auch ich werfe den Kopf zurück und lache.
Ausgleich.
Unvermittelt greift er nach meiner Hand. »Danke für die Reise, Liebes. Ich fand es wunderbar.« Er drückt meine Hand und blickt dann wieder aus dem Fenster, wo die grünen Wiesen neben dem Rollfeld an uns vorüberrasen.
Da er meine Hand nicht loslässt, lege ich meinen Kopf auf seine Schulter und schließe die Augen.
Dreiunddreißig
Am Dienstagmorgen marschiert Justin durch den Ankunftsbereich des Dubliner Flughafens und lauscht noch einmal, das Handy am Ohr, Beas Mailbox. Vor dem Piep verdreht er seufzend die Augen, furchtbar genervt von ihrem kindischen Verhalten.
»Hi, Schätzchen, ich bin’s, dein Dad. Hör mal, ich weiß, dass du wütend auf mich bist, aber wenn du dir anhören würdest, was ich zu sagen habe, besteht eine gute Chance, dass du meiner Meinung bist und im hohen Alter außerdem noch dankbar dafür. Ich will doch nur dein Bestes, und ich werde nicht auflegen, bis ich dich überzeugt habe …« Abrupt beendet er das Gespräch.
Hinter der Absperrung hält nämlich ein Mann in einem dunklen Anzug ein großes weißes Schild mit Justins Vornamen in Großbuchstaben empor. Darunter stehen die magischen Worte: » VIELEN DANK !«
Seit die erste Karte angekommen ist, haben ihn diese Worte auf Plakaten, Zeitungen, im Radio und im Fernsehen in ihren Bann gezogen, jeden Tag, von früh bis spät. Sobald er an jemandem vorbeikam, der »Danke« sagte, hat er auf dem Absatz kehrt gemacht und ist dem Betreffenden gefolgt, als wäre er hypnotisiert, als beinhalte dieses Wort einen Geheimcode, der speziell für ihn erfunden worden ist. Es schwebte in der Luft wie der Duft von frisch geschnittenem Gras an einem Sommertag, fast mehr noch ein Gefühl als ein Duft. Ein Ort, eine Jahreszeit. Glück. Ein Fest von Wachstum und Veränderung. Das Gefühl lässt ihn nicht mehr los – es ist wie ein Song, den man von früher kennt, der einen packt und mit Nostalgie überschwemmt, wie eine Welle, die einen vom Strand holt, wegspült und untertaucht, gerade dann, wenn man es am wenigsten erwartet, und oft, wenn es einem am wenigsten in den Kram passt.
Ständig sind die Worte in seinem Kopf,
danke, ich danke dir, vielen Dank, danke schön
. Je öfter er sie hört, desto fremder werden sie, als würde er zum ersten Mal im Leben die Abfolge dieser Buchstaben sehen – wie eigentlich vertraute und simple Musiknoten, die plötzlich ein Meisterwerk ergeben, nur weil sie anders arrangiert sind.
Diese Verwandlung alltäglicher Dinge in etwas Magisches, diese wachsende Erkenntnis, dass manches ganz anders ist, als er es immer wahrgenommen hat, erinnert ihn daran, wie er als Kind manchmal lange Zeit vor dem Spiegel stand und sein Gesicht anstarrte. Er stand auf einem Schemel, und je länger er es ansah, desto unbekannter wurde ihm sein eigenes Gesicht. Auf einmal war es nicht mehr das Gesicht, von dem seine Gedanken so störrisch behaupteten, dass es ihm
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