Ich hab dich im Gefühl
zu sein. Rasch ist sein Lächeln wieder verblasst, und seine Hände, die sonst so zuverlässig und fest sind, stopfen zitternd den Rahmen mit Mums Bild und die Karte des Polizisten in seine Manteltasche.
Ich betrachte sein Köfferchen. »Hast du selbst gepackt?«
»Ich hab’s versucht. Dachte, ich hab alles.« Verlegen wendet er den Blick von der offenen Schranktür ab.
»Okay, schauen wir mal rein, was wir da haben.« Als ich meine Stimme höre, erschrecke ich, weil ich mit ihm rede wie mit einem kleinen Kind.
»Haben wir überhaupt noch Zeit?«, fragt er. Seine Stimme ist so leise, dass ich das Gefühl habe, ich muss meine dämpfen, damit ich seine nicht zerbreche.
»Ja«, antworte ich, aber meine Augen füllen sich mit Tränen, während ich heftiger als beabsichtigt hinzufüge: »Wir haben alle Zeit der Welt, Dad.«
Dann schaue ich schnell weg und verhindere, dass meine Tränen überlaufen, indem ich Dads Koffer aufs Bett hebe und mich zusammenzureißen versuche. Alltäglichkeiten, das Gewöhnliche, das Banale – das ist es, was den Motor am Laufen hält. Wie ungewöhnlich das Gewöhnliche in Wirklichkeit ist. Letztlich ein Werkzeug, das wir alle benutzen, um weitermachen zu können, eine Schablone für unsere geistige Gesundheit.
Als ich den Koffer aufmache, spüre ich, wie ich wieder die Fassung zu verlieren drohe, aber ich rede weiter und klinge dabei wahrscheinlich wie eine desillusionierte Vorstadt-Fernsehmama aus den sechziger Jahren, die ihr Mantra wiederholt: Alles ist wunderbar, alles ist famos. Mit viel »Du meine Güte« und »Ach, was soll’s« arbeite ich mich durch den Koffer, in dem das pure Chaos herrscht. Eigentlich dürfte mich das nicht überraschen, denn Dad hat in seinem ganzen Leben noch nie einen Koffer gepackt. Ich glaube, was mich so mitnimmt, ist, dass er mit seinen fünfundsiebzig Jahren, zehn Jahre nach dem Tod seiner Frau, mit so etwas offensichtlich immer noch nicht zurechtkommt. Vielleicht hat ihn ja auch die Tatsache, dass ich weg war, so durcheinandergebracht. Mein Dad, der groß und stark ist wie eine Eiche, unerschütterlich wie ein Fels in der Brandung, scheitert an etwas so Einfachem wie Kofferpacken. Jetzt sitzt er auf der Bettkante und dreht seine Kappe in den knorrigen Händen, immer rundherum, Leberflecken wie eine Giraffe, und die Finger zittern in der Luft, als wollten sie auf einem unsichtbaren Griffbrett das Vibrato in meinem Kopf kontrollieren.
Der Versuch, Kleidungsstücke zusammenzulegen, ist fehlgeschlagen, stattdessen sind zerknitterte Knäuel im Koffer, die gut von einem Kind hineingestopft worden sein könnten. In ein Handtuch gewickelt finde ich meinen verlorenen Schuh. Ohne etwas zu sagen, packe ich ihn aus und schlüpfe hinein, als wäre es das Normalste der Welt. Die Handtücher wandern dorthin zurück, wo sie hingehören. Ich falte und packe neu. Schmutzige Unterhosen, Socken, Schlafanzug, Unterhemden, Kulturbeutel. Ich drehe mich um, nehme seine restlichen Sachen aus dem Schrank und hole tief Luft.
»Wir haben alle Zeit der Welt, Dad«, wiederhole ich. Aber diesmal sage ich es hauptsächlich mir selbst.
In der U-Bahn zum Flughafen schaut Dad ständig auf die Uhr und rutscht unruhig auf seinem Platz herum.
»Hast du einen wichtigen Termin?«, erkundige ich mich lächelnd.
»Den Monday Club«, antwortet er und schaut mich besorgt an. Er hat noch nie einen Clubabend verpasst, nicht mal, als ich in der Klinik war.
»Aber bis dahin schaffen wir’s doch locker.«
Er hibbelt weiter herum. »Ich möchte den Flug auf keinen Fall verpassen. Nachher bleiben wir hier irgendwo stecken.«
»Ach, ich glaube, wir schaffen es«, meine ich ermutigend und verbeiße mir ein Lächeln. »Es gibt auch mehr als einen Flug am Tag, weißt du.«
»Na gut.« Er macht ein erleichtertes und sogar beeindrucktes Gesicht. »Vielleicht reicht es ja sogar noch zur Abendmesse. Oh, im Club werden sie gar nicht glauben wollen, was ich zu erzählen habe«, meint er aufgeregt. »Donal fällt bestimmt tot um, wenn zur Abwechslung mal alle mir zuhören und nicht ihm.« Er lehnt sich zurück und schaut aus dem Fenster in die Finsternis des U-Bahn-Schachts. Er starrt in die schwarze Dunkelheit, ohne sein Spiegelbild zu bemerken. Es ist, als würde er ganz woandershin blicken und jemanden sehen, der weit weg ist, weit in der Vergangenheit. Während er in seiner anderen Welt weilt oder vielleicht auch in der gleichen Welt, aber in einer anderen Zeit, hole ich mein Handy heraus
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