Ich hab dich im Gefühl
gehörte, sondern er erblickte stattdessen sein wahres Selbst: Die Augen standen weiter auseinander, als er gedacht hatte, ein Augenlid war tiefer als das andere, ein Nasenloch ebenfalls, und auch der Mundwinkel bog sich auf dieser Seite etwas nach unten, so, als hätte jemand eine Linie mitten durch sein Gesicht gezogen und dabei alles nach unten geschoben, wie es manchmal passierte, wenn man mit dem Messer durch klebrigen Schokokuchen schnitt und die zuvor glatte Oberfläche nach unten gedrückt wurde. Ein schneller Blick, und man merkte nichts. Aber eine sorgfältige Analyse, zum Beispiel abends vor dem Zähneputzen, offenbarte, dass er das Gesicht eines Fremden trug.
Jetzt tritt Justin einen Schritt von den Worten zurück, umkreist sie ein paar Mal und betrachtet sie von allen Seiten, aus allen möglichen und unmöglichen Perspektiven. Wie bei Gemälden in einer Galerie diktieren die Worte selbst, in welcher Höhe sie ausgestellt werden sollen, legen den Winkel fest, in dem man sich ihnen nähern muss, die Position, in der man sie am besten genießen kann. Jetzt hat er den korrekten Standpunkt gefunden. Jetzt kann er ihr Gewicht erkennen, die Botschaften, die sie in sich tragen – Brieftauben, Austern mit ihren Perlen, pflichtbewusste Bienen, bewehrt mit dem Stachel, den sie zum Schutz von Königin und Honig brauchen. Jetzt ist »Danke« keine Höflichkeitsfloskel mehr, die man tausendmal am Tag hört, jetzt hat es auf einmal eine viel tiefere Bedeutung.
Ohne einen weiteren Gedanken an Bea klappt er das Handy zu und geht auf den Mann mit dem Schild zu. »Hallo.«
»Mr Hitchcock?« Der Mann ist mindestens eins achtzig groß, und seine Brauen sind so dunkel und dicht, dass Justin kaum die Augen darunter erkennen kann.
»Ja«, antwortet er etwas argwöhnisch. »Ist dieser Wagen wirklich für
Justin
Hitchcock?«
Der Mann zieht einen Zettel aus der Tasche und vergewissert sich. »Ja, Sir. Sind Sie das immer noch oder jetzt nicht mehr?«
»Hmm«, erwidert Justin nachdenklich. »Doch, das bin ich.«
»Sie scheinen sich da gar nicht so sicher zu sein«, stellt der Fahrer lakonisch fest und senkt sein Schild. »Wohin wollen Sie denn heute Morgen?«
»Müssten Sie das nicht wissen?«
»O doch. Aber als ich das letzte Mal jemanden in mein Auto gelassen habe, der so unsicher war wie Sie, hab ich einen Tierschutzaktivisten direkt zu einem Treffen der IMFHA gebracht.«
Da Justin die Abkürzung nicht kennt, fragt er vorsichtig: »War das schlimm?«
»Der Präsident der
Irish Masters of Fox Hounds Association
fand es schlimm, ja. Er steckte ohne Wagen am Flughafen fest, während der Fanatiker, den ich aufgegabelt hatte, rote Farbe im Konferenzraum verteilte. Sagen wir mal, was das Trinkgeld anging, war mir das Jagdglück nicht hold.«
»Verstehe ich das richtig – es war eine Versammlung der Fuchsjagd-Befürworter?«, fasst Justin zusammen, legt den Kopf in den Nacken und heult zur Veranschaulichung: »Uuuu-uuu.«
Der Fahrer starrt ihn ausdruckslos an.
Justin wird rot. »Na ja, ich will zur National Gallery.« Pause. »Ich habe auch keine Vorbehalte gegen Gemäldeausstellungen. Ich werde über Malerei sprechen, nicht meine Frustration an anderen Menschen auslassen und sie als Leinwände benutzen. Nur wenn meine Exfrau sich im Publikum befände, könnte ich Lust bekommen, mit Pinsel und Farbe auf sie loszugehen«, lacht er, was der Fahrer mit einem weiteren strafenden Blick quittiert.
»Ich war nicht drauf eingestellt, dass mich jemand hier abholt«, redet Justin weiter und läuft hinter dem Chauffeur her aus dem Terminal in den grauen Oktobermorgen. »Bei der Gallery haben sie mir nichts davon gesagt.« Sie eilen den Fußgängerweg entlang durch die Regentropfen, die wie Fallschirmspringer auf Justins Kopf und Schulter herabsausen und ihre Reißleinen ziehen.
»Ich hab von diesem Auftrag erst gestern per Anruf erfahren. Eigentlich hätte ich heute zur Beerdigung der Tante meiner Frau gemusst.« Er wühlt in der Tasche nach dem Parkticket und steckt es in die Maschine, um es zu entwerten.
»Oh, tut mir leid, das zu hören«, sagt Justin und hört einen Moment auf, die Regentropfen wegzuwischen, die auf den Schultern seines braunen Cordjacketts gelandet sind. Düster und respektvoll schaut er den Fahrer an.
»Mir tat es auch leid. Ich hasse Beerdigungen.«
Seltsame Antwort. »Na ja, da sind Sie bestimmt nicht der Einzige.«
Der Chauffeur bleibt stehen und sieht Justin bitterernst an. »Ich muss immer
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