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Ich hab dich im Gefühl

Ich hab dich im Gefühl

Titel: Ich hab dich im Gefühl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cecelia Ahern
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Obwohl der Sprung mir Angst gemacht hat, war er doch auch irgendwie angenehm, und ich wäre glatt bereit, die Stufen noch einmal hinaufzusteigen.
    Um mich herum rascheln die Blätter in der sanften Brise, und ich bin nicht sicher, ob ich mir nur einbilde, dass sie den Duft seines Aftershaves zu mir trägt, den gleichen Duft wie im Friseursalon. Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie er ein in smaragdgrünes Papier eingewickeltes Päckchen nimmt, das im Glanz der Weihnachtsbaumlichter und den darum herum brennenden Kerzen glitzert. Das Päckchen ist mit einer großen roten Schleife verschnürt, und meine Hände sind für den Augenblick seine, als er das Band langsam aufmacht und vorsichtig das Klebeband vom Papier schält, damit es nicht zerreißt. Ich bin verblüfft, wie zärtlich er das liebevoll verpackte Päckchen öffnet, aber dann sind auch seine Gedanken plötzlich meine, und ich erkenne seinen Plan, das Papier einzustecken und für die noch uneingepackten Geschenke zu verwenden, die draußen im Auto liegen. Heraus kommen eine Flasche Aftershave und ein Rasierset. Das Weihnachtsgeschenk von Bea.
    »Ein attraktiver Mann«, flüstert Kate. »Ich unterstütze deine Stalker-Aktion zu hundert Prozent, Joyce.«
    »Das ist keine Stalker-Aktion«, zische ich. »Und ich hätte das auch gemacht, wenn er hässlich wäre.«
    »Darf ich reingehen und mir seinen Vortrag anhören?«, will Kate wissen.
    »Nein!«
    »Warum nicht? Er hat mich noch nie gesehen, er kann mich nicht erkennen. Bitte, Joyce – meine beste Freundin glaubt, dass sie eine geheimnisvolle Verbindung zu einem Wildfremden hat. Da kann ich ihm doch wenigstens zuhören und sehen, wie er so ist.«
    »Was ist mit Sam?«
    »Magst du vielleicht ein Weilchen auf ihn aufpassen?«
    Ich erstarre.
    »Oh, vergiss es«, rudert sie zurück. »Ich nehme ihn mit rein, bleib ganz hinten und gehe, sobald er jemanden stört.«
    »Nein, nein, ist schon in Ordnung.« Ich schlucke und zwinge mich zu lächeln.
    »Bist du sicher?« Kate macht keinen überzeugten Eindruck. »Ich bleibe auch nicht bis zum Schluss. Ich möchte mir den geheimnisvollen Fremden nur mal anschauen.«
    »Ich schaff das schon. Geh ruhig.« Sanft schiebe ich sie weg. »Viel Spaß. Wir schaffen das schon, stimmt’s?«, wende ich mich an Sam.
    Statt einer Antwort stopft er seinen Zeh samt Socke in den Mund.
    »Ich verspreche, dass ich nicht lange weg bin.« Kate beugt sich über den Wagen, gibt ihrem Sohn einen Kuss, rennt über die Straße und hinein in die Gallery.
    »Also …« Nervös blicke ich um mich. »Dann sind wir zwei jetzt wohl ganz allein, Sean.«
    Er schaut mich mit seinen großen blauen Augen an, und sofort kommen mir die Tränen.
    Ich vergewissere mich, dass mir auch wirklich niemand zugehört hat. Natürlich wollte ich nicht Sean sagen, sondern Sam.
     
    Justin nimmt seinen Platz auf dem Podium des Hörsaals im Keller der National Gallery ein. Ein prall gefüllter Raum voller Gesichter starrt ihm entgegen, und er ist sofort in seinem Element. Im letzten Moment trifft noch eine junge Frau ein, entschuldigt sich für ihr Zuspätkommen und reiht sich rasch in die Menge ein.
    »Guten Morgen, Ladies and Gentlemen, herzlichen Dank, dass Sie trotz des Regens gekommen sind. Ich bin heute hier, um über ein Gemälde zu sprechen, und zwar über
Die Briefschreiberin
von ter Borch, einem niederländischen Barockmaler aus dem siebzehnten Jahrhundert, der zu einem großen Teil verantwortlich war für die Popularisierung des Briefthemas. Dieses Bild – nun, nicht dieses Bild allein, sondern dieses ganze Genre – gehört zu meinen persönlichen Favoriten, vor allem heutzutage, wo das Briefeschreiben so gut wie ausgestorben ist.« Er hält inne.
    Fast, aber nicht ganz, denn mir schickt jemand Briefchen.
    Er tritt vom Podium herunter, macht einen Schritt aufs Publikum zu und mustert die Leute im Saal. Seine Augen werden schmal, während er die Reihen überfliegt, denn er weiß, dass hier durchaus die mysteriöse Person sitzen könnte, die ihm diese Karten schreibt.
    Jemand hustet, was ihn aus seiner Träumerei reißt, und er ist augenblicklich wieder bei der Sache. Nur ein klein wenig verwirrt macht er dort weiter, wo er aufgehört hat.
    »In einer Zeit, in der ein persönlicher Brief eine Seltenheit ist, erinnert uns dieses Bild daran, wie die großen Meister des Goldenen Zeitalters die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen darstellten, die in diesem scheinbar so schlichten Aspekt des täglichen Lebens

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