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Ich hab dich im Gefühl

Ich hab dich im Gefühl

Titel: Ich hab dich im Gefühl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cecelia Ahern
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Geringsten an meinen Tränen interessiert, schaut Sam einem Vogel nach. Und deutet wieder mit seinem kleinen Wurstfinger.
    »Vogel«, sage ich.
    »Ba-ba«, antwortet er.
    Ich lächle und wische mir über die Augen, aus denen immer noch Tränen kommen.
    »Aber jetzt gibt es keinen Sean und auch keine Grace.« Ich umarme den Kleinen fester und lasse die Tränen fließen, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass Sam niemandem davon erzählen wird.
    Der Vogel macht ein paar Hüpfer, hebt ab und schwingt sich in den Himmel.
    »Ba-ba weg«, sagt Sam und streckt die Hände aus, mit den Handflächen nach oben.
    Ich sehe zu, wie der Vogel in der Ferne verschwindet, nur noch ein Staubkorn am blassblauen Himmel. Allmählich versiegen meine Tränen. »Ba-ba weg«, wiederhole ich.
     
    »Was sehen wir auf diesem Bild?«, fragt Justin.
    Schweigen, während alle das auf die Leinwand projizierte Gemälde betrachten.
    »Nun, erst mal das Offensichtliche: Eine junge Frau sitzt an einem Tisch in einem ruhigen Innenraum. Sie schreibt einen Brief, eine Feder bewegt sich übers Papier. Natürlich wissen wir nicht, was sie schreibt, aber ihr sanftes Lächeln legt nahe, dass sie an einen Menschen schreibt, den sie liebt, vielleicht an ihren Geliebten. Ihr Kopf ist leicht nach vorn gebeugt, so dass wir die elegante Wölbung ihres Halses erkennen …«
     
    Als Sam wieder in seinem Buggy sitzt und mit seinem blauen Wachsmalstift Kreise auf ein Stück Papier zeichnet – beziehungsweise Löcher ausstanzt und Wachsschrapnelle im Wagen verteilt –, hole ich meinen Kalligraphiestift und Papier aus meiner Tasche. Den Stift in der Hand, stelle ich mir vor, dass ich Justin von der anderen Seite der Straße hören kann. Ich brauche die
Briefschreiberin
nicht vor mir zu sehen, sie ist mir lebhaft im Gedächtnis, denn Justin hat sie im College und dann erneut bei den Recherchen für sein Buch intensiv studiert. Langsam beginne ich zu schreiben.
    Zur Festigung unserer Mutter-Tochter-Beziehung hat Mum uns zusammen in einen Kalligraphiekurs eingeschrieben, als ich siebzehn war, mitten in meiner Gothic-Phase – pechschwarz gefärbte Haare, kalkweiß geschminktes Gesicht und knallrote Lippen, das allerdings wegen eines Lippen-Piercings. Jeden Mittwoch um sieben gingen wir zusammen hin.
    Mum hatte in einem Buch, in dem es von allerlei New-Age-Weisheiten wimmelte und das Dad überhaupt nicht gefiel, gelesen, dass Kinder sich viel eher und vor allem freiwillig öffnen und Dinge aus ihrem Leben mitteilen, wenn man gemeinsame Aktivitäten mit ihnen pflegt, während sie sich für gewöhnlich verschließen, wenn man sie verhörähnlichen Konfrontationen unterzieht, wie mein Dad das gerne tat.
    Tatsächlich funktionierten die Kurse, obwohl ich über die uncoole Beschäftigung jammerte und stöhnte: Ich öffnete mich und erzählte Mum alles. Na ja, fast alles. Den Rest erriet sie mit Hilfe ihrer natürlichen Intuition. Ich meinerseits entwickelte eine tiefere Liebe, neuen Respekt und Verständnis für Mum als Mensch, als Frau und nicht einfach als meine Mutter. Ganz nebenbei lernte ich auch noch Kalligraphie.
    Wenn ich meinen Stift nehme und mich dem Rhythmus der raschen Aufwärtsstriche hingebe, die wir damals gelernt haben, fühle ich mich zurückversetzt in den Klassenraum, in dem ich mit meiner Mutter gesessen habe.
    Ich höre ihre Stimme, rieche ihren Duft und erinnere mich an unsere Gespräche. Weil ich siebzehn war, verliefen sie oft recht ungeschickt und holprig, wir schlichen lange um den heißen Brei herum, aber wir sprachen miteinander, auf unsere eigene Art, und fanden unseren eigenen Weg, zum Persönlichen vorzudringen. Eigentlich hat meine Mutter, ohne es zu wissen, damals genau die richtige Beschäftigung für mich ausgesucht. Kalligraphie besitzt Rhythmus, sie hat Gothic-Anklänge, wird im Elan des Augenblicks ausgeführt und verfügt über einen klaren Standpunkt. Ein einheitlicher Schreibstil, der dennoch einzigartig ist. Für mich war es eine Lektion, dass Konformität vielleicht doch nicht ganz das war, wofür ich sie hielt, und mir dämmerte, dass es auch in einer begrenzten Welt viele Möglichkeiten gibt, sich auszudrücken, ohne diese Grenzen zu überschreiten.
    Abrupt blicke ich auf. »Trompe-l’œil«, sage ich laut und lächle.
     
    *
    »Was bedeutet das?«, fragt Kate.
    »Trompe l’œil ist eine Maltechnik, die eine extrem realistische Darstellung benutzt, um die optische Täuschung hervorzurufen, dass das dargestellte Objekt

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