Ich hab dich im Gefühl
nicht Rock’n’Roll«, korrigiere ich ihn und komme mir vor wie eine Lehrerin. »Die Kapelle ist bekannt wegen ihrer kunstvollen Stuckdecken, dem Werk eines französischen Stuckateurs namens Barthelemy Cramillion.«
»Ach wirklich, Liebes? Wann hat er das denn gemacht?« Er zieht den Stuhl noch ein Stück näher ans Bett. Nichts findet er toller als ein gälisches scéal, eine richtig gute Geschichte.
»Im Jahr 1762 .« Warum in aller Welt weiß ich so etwas? Aber ich kann nichts dagegen machen, es ist fast, als funktioniere meine Zunge per Autopilot, völlig losgelöst vom Gehirn. »Die Kapelle ist vom gleichen Mann entworfen worden, der auch das Leinster House gebaut hat. Er hieß Richard Cassels. Einer der berühmtesten Architekten seiner Zeit.«
»Von ihm hab ich schon gehört«, lügt Dad. »Wenn du Dick gesagt hättest, hätte ich gleich Bescheid gewusst.« Er kichert.
»Eigentlich war es ja das Geistesprodukt von Bartholomew Mosse«, erkläre ich weiter, obwohl ich keine Ahnung habe, wo das Wissen und die Worte herkommen. Es ist wie bei einem Déjà-vu – die Worte und das Gefühl, das sie begleitet, sind irgendwie vertraut, dabei habe ich nie davon gehört. Vielleicht erfinde ich alles nur. Aber irgendwo tief in mir weiß ich, dass es stimmt, was ich sage. Wärme durchflutet meinen Körper.
» 1745 hat er ein kleines Theater namens New Booth gekauft und es in Dublins erste Entbindungsklinik verwandelt.«
»Dann hat es hier gestanden, das Theater, oder?«
»Nein, in der George’s Lane. Hier waren nur Felder. Aber schließlich wurde die Klinik zu klein, und er hat die Felder hier gekauft, sich mit Richard Cassels beraten, und 1757 wurde das neue Krankenhaus, heute unter dem Namen Rotunda bekannt, vom königlichen Statthalter eröffnet. Am 8 . Dezember, wenn ich mich recht erinnere.«
Jetzt ist Dad verwirrt. »Ich wusste gar nicht, dass du dich für so was interessierst, Joyce. Woher weißt du das denn alles?«
Ich runzle die Stirn. Bisher wusste ich das ja auch nicht. Auf einmal überwältigt mich der Frust, und ich schüttle wütend den Kopf.
»Ich möchte mir die Haare schneiden lassen«, verkünde ich ungehalten und blase meinen Pony aus der Stirn. »Ich möchte hier raus.«
»In Ordnung, Liebes«, erwidert Dad. »Du musst nur noch ein Weilchen durchhalten.«
Sieben
Geh zum Friseur!
Justin bläst sich den Pony aus den Augen und starrt unzufrieden sein Spiegelbild an.
Bevor er in den Spiegel geschaut hat, war er dabei, seine Tasche für den Rückflug nach London zu packen und eine fröhliche Melodie über einen vor kurzem geschiedenen Mann zu pfeifen, der gerade zum ersten Mal mit einer anderen Frau Sex gehabt hat. Na ja, es war eigentlich das zweite Mal Sex dieses Jahr, aber das erste Mal, an das er wenigstens mit einem Mindestmaß an Stolz denken kann. Jetzt, vor dem großen Spiegel, bricht das Pfeifen ab, denn die Wirklichkeit steht in krassem Kontrast zu dem Fantasiebild, das er sich von sich selbst gemacht hat. Er korrigiert seine Haltung, saugt die Wangen ein, lässt seine Muskeln spielen und schwört sich, dass er jetzt, wo die finstere Scheidungswolke sich einigermaßen verzogen hat, seinen Körper wieder in Form bringen wird. Er ist dreiundvierzig und durchaus attraktiv, das weiß er, aber er bildet sich nichts darauf ein. Seine Meinung über sein Äußeres unterliegt der gleichen Logik, die er auch bei einer Weinprobe anwendet. Wenn ein Wein richtig gut ist, liegt es einfach daran, dass die Trauben am richtigen Ort und unter den richtigen Bedingungen gedeihen konnten. Ein gewisses Ausmaß an Pflege und Zuwendung, später dann energisches Auspressen. Justin ist klar, dass er mit guten Genen auf die Welt gekommen ist und mit Gesichtszügen, die einigermaßen proportioniert und dort angesiedelt sind, wo sie hingehören. Seiner Ansicht nach gebührt ihm dafür weder Lob noch Tadel, ebenso wenig, wie weniger attraktive Menschen mit gerümpfter Nase und mitleidigem Lächeln bedacht werden sollten. Es ist eben so, wie es ist.
Mit gut eins achtzig ist er ziemlich groß, breitschultrig, hat noch immer dichte, kastanienbraune Haare, die allerdings an den Schläfen langsam grau werden. Das stört ihn nicht, denn er hat schon mit Mitte zwanzig ein paar graue Haare gehabt und fand immer, dass er dadurch irgendwie elegant wirkt. Obwohl es da auch jemanden gibt, der so viel Angst vor der Vergänglichkeit des Lebens hat, dass ihm Justins graue Sprenkel ein Dorn im Auge waren, an dem die
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