Ich hab dich im Gefühl
Seifenblase eigener Jugendlichkeits-Illusionen platzen konnte. Dieser Jemand war hämisch auf ihn zugebuckelt und hatte ihm eine Flasche Haartönung hingeworfen, als wäre sie ein Krug mit kostbarem Wasser direkt aus dem Brunnen ewiger Jugend.
Aber für Justin ist es einfach eine Tatsache, dass man sich verändert. Er ist kein Typ, der innehält und im Leben steckenbleibt – obwohl er nicht damit gerechnet hat, dass diese praktische Philosophie des Alterns und Grauwerdens auch auf seine Ehe zutreffen würde. Jennifer hat ihn vor zwei Jahren deswegen verlassen, na ja, vielleicht nicht nur deshalb, sondern auch noch aus einer Menge anderer Gründe. So vielen genau genommen, dass er sich wünscht, er hätte Stift und Papier zur Hand genommen und sie sich notiert, während sie ihre Hasstirade auf ihn niederprasseln ließ. In den dunklen, einsamen Nächten, die folgten, hielt Justin die Haartönung in der Hand und fragte sich, ob alles wieder gut werden würde, wenn er von seinen Überzeugungen ein bisschen abrücken würde. Würde er dann eines Morgens wieder neben Jennifer aufwachen? Würde die kleine Narbe an seinem Kinn – an der Stelle, wo der Ehering gelandet war, den sie ihm an den Kopf geschleudert hatte – verheilt sein? Würde die Liste der Dinge, die Jennifer so sehr an ihm hasste, plötzlich genau das sein, was sie an ihm liebte? Aber dann wurde er wieder nüchtern und leerte die Haarfarbe in die Küchenspüle seines gemieteten Apartments. Die Flecken auf dem rostfreien Stahl erinnerten ihn von da an jeden Tag an seinen Entschluss, in der Realität verwurzelt zu bleiben. Bis er nach London zog, um näher bei seiner Tochter zu sein – was seiner Exfrau überhaupt nicht passte.
Durch die langen Strähnen hindurch, die ihm in die Stirn hängen, hat er eine Vision des Mannes, den er sehen möchte. Er soll schlanker und jünger sein, vielleicht ein paar Falten weniger um die Augen haben. Seine Makel, wie beispielsweise ein erweiterter Bauchumfang, sind teilweise auf das Älterwerden und teilweise auf ihn selbst zurückzuführen, weil er in der anstrengenden Phase der Scheidung Trost bei Bier und Take-aways gesucht hat, statt spazieren zu gehen oder gelegentlich auch mal zu joggen.
Wiederholte Flashbacks der vorigen Nacht lenken seinen Blick zurück zum Bett, wo er und Sarah sich gestern schließlich auch intim kennengelernt haben. Den ganzen Tag hat er sich wie der große Zampano gefühlt und war im Hörsaal des Öfteren kurz davor, seinen Vortrag über niederländische und flämische Malerei zu unterbrechen und stattdessen Einzelheiten über seine Nachtvorstellung preiszugeben. Es ist gerade Rag-Week an der Uni mit ihren Tausenden Events, und bestenfalls drei Viertel der Studenten war zur Vorlesung erschienen. Am Abend vorher hatte eine große Schaumparty stattgefunden, und Justin vermutete, dass auch die Anwesenden es wahrscheinlich nicht bemerkt hätten, wenn er zu einer detaillierten Analyse seiner Qualitäten als Liebhaber übergegangen wäre. Trotzdem überprüfte er diese Annahme lieber nicht.
Zu Justins großer Erleichterung ist die Blutspendeaktion inzwischen vorbei, und Sarah arbeitet wieder in ihrer Praxis. Als er diesen Monat zu seinen Vorlesungen nach Dublin gekommen ist, sind sie sich in einer Bar begegnet, von der er zufällig wusste, dass sie zu ihren Lieblingskneipen gehört, und dort hat sich alles Weitere entwickelt. Zwar ist er nicht sicher, ob er sie wiedersehen wird, aber in seiner Innentasche steckt jedenfalls ein Zettel mit ihrer Nummer.
Die vorige Nacht war zwar wirklich nett, aber er muss zugeben, dass einiges an seinem Eroberungszug nicht optimal war. Erst haben sie in einer gut besuchten Bar am Green ein paar Flaschen Château Olivier zu viel getrunken – einen Wein, den Justin bis dahin trotz seiner idealen Bordeaux-Lage immer eher enttäuschend gefunden hatte –, darauf folgte ein Spaziergang zu seinem Hotel. Da er sich bereits vorher an der Minibar im Hotel ein bisschen Mut angetrunken hatte, war er, als er in die Bar kam, schon nicht mehr in der Lage, sich ernsthaft und kultiviert zu unterhalten – genau genommen überhaupt Konversation zu machen.
Herrgott nochmal, Justin, kennst du irgendeinen Mann, der sich bei einem Date wirklich für das Gespräch interessiert?
Aber obwohl sie im Bett gelandet sind, hat er trotzdem das Gefühl, dass das Reden für Sarah wichtig war. Vielleicht wollte sie ihm etwas sagen, und vielleicht hat sie es ihm sogar gesagt, während er
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