Ich hab dich im Gefühl
Teeparty. Zwar passten mir die Kleider nie ganz richtig, aber ich zog sie trotzdem an. Tante Jemima und ich tranken natürlich auch nie wirklich Tee, aber wir waren beide höflich genug, um so zu tun. Bis abends meine Eltern kamen, um mich abzuholen. Als ich die Geschichte vor ein paar Jahren Conor erzählt habe, lachte er und kapierte überhaupt nicht, worum es ging.
Das konnte man auch leicht übersehen, ich halte es ihm nicht vor, aber ich hätte ihm die Erkenntnis, die dahintersteckte und die mir selbst immer deutlicher wurde, verdammt gern verständlich gemacht: Die Menschen werden es nie müde, Spiele zu spielen und sich zu verkleiden, ganz egal, wie alt sie sind. Nur unsere Lügen werden immer komplizierter, die Worte, mit denen wir anderen etwas vormachen, geschliffener und gewandter. Von Räuber und Gendarm, von Vater-Mutter-Kind zu Mann und Frau – wir hören nie auf, uns zu verstellen. Aber jetzt, wo ich neben Dad im Taxi sitze und Conors Stimme aus dem Telefon höre, wird mir klar, dass ich aufgehört habe, Theater zu spielen.
»Wo ist Conor?«, fragt Dad, als ich aufgelegt habe.
Er macht den obersten Hemdenknopf auf und lockert seine Krawatte. Er verlässt das Haus nur in Anzug und Krawatte und vergisst auch nie seine Kappe. Jetzt sucht er den Hebel an der Autotür, mit dem er die Scheibe herunterkurbeln kann.
»Das geht inzwischen alles elektronisch, Dad. Da ist der Knopf. Conor ist noch in Japan. In ein paar Tagen kommt er heim.«
»Ich dachte, er wollte schon gestern zurück sein.« Dad lässt das Fenster ganz herunter und wird fast weggeweht. Die Mütze rutscht ihm vom Kopf, und die wenigen noch verbliebenen Haarsträhnen stehen wild in die Höhe. Sorgfältig setzt er die Kappe wieder auf und kämpft mit dem Fenster, bis er endlich den Trick raushat, wie man einen kleinen Schlitz offen lassen kann, um frische Luft in das muffige Taxi zu bekommen.
»Ha, geschafft!«, ruft er triumphierend und schlägt mit der Faust gegen die Scheibe.
Ich warte ab, bis er damit fertig ist, ehe ich antworte: »Ich hab es ihm ausgeredet.«
»Wem hast du was ausgeredet, Liebes?«
»Conor. Du hast nach Conor gefragt, Dad.«
»Ach ja, richtig. Er kommt aber doch bestimmt bald heim, oder?«
Ich nicke nur.
Es ist ein heißer Tag, die Haare kleben mir im Nacken, und ich blase mir den Pony aus der verschwitzten Stirn. Auf einmal fühlen meine Haare sich schwer und fettig an. Braun und strähnig, eine erdrückende Last, und ich verspüre wieder den überwältigenden Drang, sie einfach abzurasieren. Unruhig rutsche ich auf meinem Sitz herum. Dad bemerkt es zwar, ist aber klug genug, den Mund zu halten. Schon die ganze Woche geht das so: Ich spüre eine unvorstellbare Wut, die ich selbst nicht verstehe, die aber so groß ist, dass ich am liebsten mit den Fäusten auf die Wand losgegangen wäre oder die Krankenschwestern verprügelt hätte. Und dann werde ich auf einmal weinerlich und fühle eine Leere in mir, die ich nie und nimmer werde auffüllen können. Ehrlich gesagt ist mir die Wut lieber. Wut ist heiß und füllt mich aus und gibt mir etwas, woran ich mich festhalten kann.
An der Ampel bleiben wir stehen, und ich schaue nach links. Ein Friseursalon!
»Bitte halten Sie hier.«
»Was machst du denn, Joyce?«
»Warte bitte im Auto, Dad. Es dauert bestimmt nicht länger als zehn Minuten, ich will mir nur schnell die Haare schneiden lassen. Ich halte das einfach nicht mehr aus.«
Dad sieht zu dem Friseurladen hinüber. Dann schaut er den Taxifahrer an, und zum Glück sagen beide nichts. Auch das Taxi direkt vor uns blinkt und fährt an den Bordstein. Wir halten hinter ihm.
Ein Mann steigt vor uns aus, und ich halte inne, einen Fuß schon auf dem Bürgersteig, um ihn zu beobachten. Irgendwie kommt er mir bekannt vor. Für einen Moment treffen sich unsere Blicke, und wir starren uns an. Suchen etwas im Gesicht des anderen. Dann kratzt er sich am linken Arm, eine Bewegung, die meine Aufmerksamkeit viel zu lange auf sich zieht. Ein ungewöhnlicher Moment. Ich bekomme eine Gänsehaut. Das Letzte, was ich jetzt brauchen kann, ist Smalltalk mit einem Bekannten, also schaue ich schnell wieder weg.
Auch er wendet den Blick ab und geht rasch weiter.
»Was machst du denn?«, fragt Dad viel zu laut, und ich steige vollends aus.
Langsam gehe ich auf den Friseurladen zu, und wie sich zeigt, hat der Mann dasselbe Ziel. Sofort verändert sich mein Gang, und ich bewege mich mechanisch, linkisch, gehemmt. Irgendetwas an
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