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Ich hab dich im Gefühl

Ich hab dich im Gefühl

Titel: Ich hab dich im Gefühl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cecelia Ahern
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Es kann einen aus der Fassung bringen, wenn man in einer Situation, in der man um keinen Preis mit etwas Bestimmtem konfrontiert werden möchte, gezwungen ist, sich selbst anzuschauen. Etwas Rohes, Reales kommt da zum Vorschein, etwas, vor dem man nicht weglaufen kann. Man kann sich selbst belügen, so viel man will, aber wenn man sich ins Gesicht schaut, dann erkennt man die Wahrheit. Mit mir ist etwas nicht okay. Das leugne ich nicht, es starrt mir ins Gesicht. Meine Wangen sind eingefallen, meine Augen haben dunkle Ringe und sind rot gerändert von den Tränen der letzten Nacht, wie mit einem seltsamen Lidstrich. Aber ansonsten sehe ich aus wie immer. Trotz der riesigen Veränderung in meinem Leben sehe ich aus wie immer. Müde, aber wie ich. Keine Ahnung, was ich erwartet habe. Wahrscheinlich eine vollkommen veränderte Frau, der die Leute auf den ersten Blick ansehen, dass sie ein traumatisches Erlebnis hinter sich hat. Doch der Spiegel sagt mir Folgendes: Von außen sieht man nichts Besonderes. Von außen kann man niemals alles sehen.
    Ich bin eins siebenundsechzig und habe mittellange Haare, bis zur Schulter. Meine Haarfarbe ist ein Mittelding zwischen Blond und Braun. Ich bin eine Mittelperson. Nicht dick, aber auch nicht dünn. Ich mache zweimal die Woche Sport, jogge ein bisschen, walke ein bisschen, schwimme ein bisschen. Nichts Übertriebenes, nichts Untertriebenes. Keine Besessenheit, kein Suchtverhalten. Ich bin weder sonderlich extrovertiert noch besonders schüchtern, nein, ich bin ein bisschen von beidem, je nach Stimmung, je nach Situation. Ich übertreibe selten etwas, und das meiste, was ich tue, tue ich gern. Ich bin selten gelangweilt und beklage mich fast nie. Wenn ich Alkohol trinke, werde ich beschwipst, aber ich kippe nicht aus den Latschen und muss mich auch nicht übergeben. Ich mag meinen Job, aber ich liebe ihn nicht. Ich bin ganz hübsch, nicht umwerfend, aber auch nicht hässlich, ich erwarte nie zu viel und werde deshalb auch nie allzu sehr enttäuscht. Ich bin selten überglücklich, aber auch kaum einmal unterglücklich, sondern meistens gerade glücklich genug. Als ich jetzt in den Spiegel schaue, sehe ich eine mittelmäßig durchschnittliche Person. Ein bisschen müde, ein bisschen traurig, aber nicht von einem dramatischen Zusammenbruch bedroht. Vorsichtig blicke ich zu dem Mann neben mir und erkenne dort das Gleiche.
    »Entschuldigung?«, unterbricht der Friseur meine Gedanken. »Sie möchten, dass ich alles abschneide? Sind Sie sicher? An Ihren Haaren ist doch nichts auszusetzen.« Schon fährt er mit allen zehn Fingern durch. »Ist das Ihre Naturfarbe?«
    »Ja. Ich hab manchmal ein bisschen getönt, aber dann hab ich damit aufgehört, wegen …« Ich will sagen »wegen des Babys«. Schon füllen sich meine Augen mit Tränen, und ich senke den Blick.
    »Weswegen haben Sie aufgehört?«, fragt er nach.
    Ich sehe weiter auf meine Füße und zapple ein bisschen herum. Mir fällt keine Antwort ein, deshalb tue ich, als hätte ich ihn nicht verstanden. »Hmm?«
    »Sie haben gesagt, Sie haben aus irgendeinem Grund mit dem Haarefärben aufgehört.«
    »Oh, ach so …« Nicht weinen. Bloß nicht weinen. Wenn du jetzt damit anfängst, kannst du nie wieder aufhören. »Ach, ich weiß auch nicht«, murmle ich, beuge mich zu meiner Handtasche hinunter, die auf dem Boden steht, und fummle an ihr herum. Es geht vorbei, es geht vorbei. Eines Tages geht alles vorbei, Joyce. »Wegen der Chemie. Ich hab aufgehört wegen der Chemie.«
    »Ach so. Hmm. Dann zeige ich Ihnen mal, wie die kurzen Haare aussehen könnten«, sagt er, nimmt meine Haare und bindet sie zurück. »Wie wäre es mit einer Frisur wie Meg Ryan in
French Kiss
?« Er strubbelt die Haare in alle Richtungen, so dass ich aussehe, als hätte ich den Finger in eine Steckdose gesteckt. »Das wäre der Out-of-Bed-Look, sehr sexy. Oder wir könnten es auch so machen.« Erneut zwirbelt er meine Haare nach Strich und Faden durcheinander.
    »Könnten wir vielleicht ein bisschen schneller machen? Auf mich wartet draußen nämlich auch ein Taxi.« Ich schaue aus dem Fenster. Dad unterhält sich mit dem Fahrer, beide lachen, und ich entspanne mich etwas.
    »Oooo-kay. Aber so eine Entscheidung sollte man wirklich nicht überstürzen. Sie haben schöne, dichte Haare.«
    »Schon gut. Ich gebe Ihnen die Erlaubnis, sich zu beeilen. Schneiden Sie einfach alles ab.« Wieder sehe ich zurück zum Auto.
    »Na ja, ein paar Zentimeter müssen wir schon

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