Ich hab dich im Gefühl
Erfolg bei den Studenten im dritten Jahr, die sich seinen Vortrag extra ausgesucht haben.
Weil er weiß, dass er zu spät dran ist für sein Treffen mit Sarah, joggt er ein Stück, aber die Schmerzen von dem Aufenthalt im Fitnessstudio machen ihn fast zum Krüppel. Dass Al mit seiner Unkerei recht hatte, ärgert ihn furchtbar, und so humpelt er, statt zu rennen, hinter den beiden anscheinend langsamsten Menschen auf der ganzen Grafton Street her. Seine Pläne, die beiden zu überholen, werden vereitelt, weil ihm viel zu viele Menschen entgegenkommen. Wie soll er da auf die Überholspur gelangen? Ungeduldig verlangsamt er seine Schritte, passt sein Tempo den beiden Leuten vor ihm an, von denen der eine schwankt und vor sich hin trällert.
Um die Zeit schon besoffen, also wirklich.
Dad lässt sich Zeit und schlendert durch die Grafton Street, als hätte er alle Zeit der Welt. Wahrscheinlich hat er die ja auch, jedenfalls im Vergleich zu allen anderen, obwohl ein jüngerer Mensch vielleicht anderer Meinung wäre. Gelegentlich bleibt er stehen und deutet auf irgendetwas, stellt sich zu einem Menschenpulk, der sich gerade eine Darbietung von Straßenkünstlern anschaut, und wenn wir weitergehen, tritt er mitten hinein in den Strom, und es ist ihm vollkommen gleichgültig, dass er alles aufmischt. Wie ein Fels in der Brandung zwingt er seine Mitmenschen dazu, um ihn herumzugehen. Und während wir hin und her und rauf und runter schaukeln, singt er leise vor sich hin.
»Grafton Street’s a wonderland,
There’s magic in the air.
There’s diamonds in the ladies’ eyes and gold-dust in their hair.
And if you don’t believe me,
Come and see me there,
In Dublin on a sunny summer morning.«
Dann grinst er mich an und fängt wieder von vorn an. Hier und da fällt ihm ein Wort nicht mehr ein, aber das ersetzt er einfach mit einem Summen.
In den stressigsten Phasen meines Jobs kamen mir vierundzwanzig Stunden immer viel zu wenig vor. Jetzt möchte ich am liebsten die Hände ausstrecken und nach den Sekunden und Minuten greifen, als könnte ich sie am Verstreichen hindern, ein kleines Mädchen, das Seifenblasen nachjagt. Natürlich kann ich die Zeit nicht festhalten, aber irgendwie hat es den Anschein, als könnte Dad es. Ich habe mich oft gefragt, wie er seine Zeit ausfüllt, als wäre das, was ich beruflich machte – Türen öffnen, über Sonnenwinkel, Zentralheizung und Stauraum reden –, mehr wert als sein Herumwerkeln. Dabei werkeln wir in Wahrheit doch alle nur herum, füllen die Zeit aus, die uns auf dieser Welt gegeben ist, irgendwie. Aber um uns selbst bedeutsamer zu fühlen, stellen wir allerlei Wichtigkeitslisten auf.
Was tut man also, wenn alles sich verlangsamt, wenn die Minuten, die vergehen, plötzlich ein bisschen länger zu sein scheinen als bisher? Man nimmt sich Zeit. Man atmet langsamer. Man öffnet die Augen ein bisschen weiter und sieht sich alles in Ruhe an. Nimmt seine Umgebung in sich auf. Man denkt vielleicht auch an Geschichten von früher, an Menschen, an vergangene Zeiten und Ereignisse. Man lässt sich von dem, was man in diesem Moment wahrnimmt, an andere Dinge erinnern. Man redet über diese Dinge. Man hält inne, konzentriert sich auf das Hier und Jetzt. Man findet Lösungen für das Kreuzworträtsel, das man gestern nicht fertig gekriegt hat.
Mach langsam.
Hör auf, alles jetzt sofort erledigen zu wollen, schnell, schnell. Kümmere dich nicht darum, wenn du die Leute hinter dir aufhältst, nimm ruhig zur Kenntnis, dass sie dir fast auf die Hacken treten, aber behalte dein eigenes Tempo bei. Lass es dir von keinem anderen vorschreiben.
Aber wenn der Mensch hinter uns mir noch ein einziges Mal in die Hacken tritt …
Die Sonne scheint so hell, dass es schwierig ist, geradeaus zu schauen. Es ist, als würde sie oben an der Grafton Street sitzen, eine Bowlingkugel, die sich anschickt, uns alle zu überrollen. Endlich sind wir am Ende angekommen, und ein Ausweg aus dem Menschenstrom ist in Sicht. Plötzlich bleibt Dad stehen, fasziniert von dem Pantomimen, an dem wir gerade vorbeigegangen sind. Da unsere Arme ineinander verhakt sind, bin ich gezwungen, ebenfalls anzuhalten, und prompt rasselt der Mensch hinter mir mit voller Wucht in mich rein. Ein letzter ergiebiger Tritt in die Hacken. Das war’s.
»Hey!«, rufe ich und drehe mich wütend zu ihm um. »Passen Sie doch gefälligst auf!«
Aber er grunzt mich nur frustriert an und eilt weiter. »Selber hey!«, erwidert er
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