Ich hab dich im Gefühl
Zuschauer, und auch Sarahs Lachen verschwindet.
Nervös vertreibt Justin die Enttäuschung aus seinem Gesicht und zwingt sich zu lächeln. Rasch bahnt er sich einen Weg durch die Menge, begrüßt Sarah und führt sie eilig weg, während die Zuschauer klatschen und ein paar Münzen in den Kasten des Pantomimen werfen.
»Fandest du das nicht ein bisschen unhöflich? Vielleicht hättest du ihm wenigstens ein bisschen Kleingeld geben sollen oder so«, meint sie und schaut über die Schulter zu dem Clown zurück, der die Hände vors Gesicht geschlagen hat und mit zuckenden Schultern einen Weinkrampf mimt.
»Ich fand den Typen im Trikot ein bisschen unhöflich«, entgegnet Justin und schaut sich geistesabwesend weiter nach dem roten Mantel um, während sie sich auf den Weg zum Restaurant machen, zu einem Lunch, den Justin jetzt unbedingt absagen möchte.
Sag ihr doch, du fühlst dich nicht wohl. Nein, sie ist Ärztin, sie wird zu viele Fragen stellen. Sag ihr, dass du dich in deinem Stundenplan vertan hast und noch eine Vorlesung halten musst, jetzt gleich. Sag es ihr, sag es ihr!
Aber er geht einfach weiter, neben ihr her, in Gedanken so aktiv wie der St.-Helena-Vulkan kurz vor dem Ausbruch, die Augen so unruhig wie ein Junkie, der dringend einen Schuss braucht. In dem Kellerrestaurant führt man sie zu einem ruhigen Tisch in der Ecke. Justin blickt sehnsüchtig zur Tür.
Ruf einfach »Feuer« und renn los!
Sarah lässt ihren Mantel so von der Schulter rutschen, dass man möglichst viel Haut sieht, und zieht ihren Stuhl näher zu seinem.
So ein Zufall, dass er der Frau aus dem Friseursalon wieder begegnet ist, er ist ja buchstäblich in sie reingelaufen! Obwohl es vielleicht auch gar kein so großes Wunder ist; Dublin ist klein. Seit er hier ist, hat er gemerkt, dass so ziemlich jeder jeden kennt, oder zumindest jemanden, der mit jemandem verwandt ist, den jemand mal kennengelernt hat. Aber diese Frau … er muss aufhören, sie so zu nennen. Er muss ihr einen Namen geben.
Angelina.
»Woran denkst du?«, fragt Sarah, beugt sich über den Tisch und schaut ihm in die Augen.
Oder Lucille.
»Kaffee. Ich denke an Kaffee. Ich hätte gern einen Kaffee, schwarz«, sagt er zu der Kellnerin, die gerade den Tisch abräumt. Dann fällt sein Blick auf ihr Namensschildchen.
Jessica.
Nein, die Frau im roten Mantel ist definitiv keine Jessica.
»Willst du nichts essen?«, fragt Sarah, enttäuscht und verwirrt.
»Nein, ich kann leider nicht so lange bleiben, wie ich gehofft hatte, sondern muss schon früher wieder ins College zurück.« Unter dem Tisch hüpft sein Bein, schlägt gegen die Tischplatte und bringt das Besteck zum Klappern. Die Kellnerin und Sarah beäugen ihn forschend.
»Oh. Okay«, sagt Sarah und widmet sich der Speisekarte. »Ich hätte gern einen Chefsalat und ein Glas von dem weißen Hauswein, bitte«, bestellt sie und meint dann zu Justin: »Ich muss was essen, sonst klappe ich zusammen. Hoffentlich stört es dich nicht.«
»Kein Problem«, erwidert er lächelnd.
Obwohl du natürlich unbedingt den größten Salat auf der ganzen Karte bestellen musstest. Wie wäre es mit Susan? Sieht meine Mantel-Frau aus wie eine Susan?
Meine
Mantel-Frau? Was zum Henker ist denn mit mir los?
»Wir kommen jetzt in die Dawson Street, benannt nach Joshua Dawson, der auch die Grafton Street, Anne Street und Henry Street entworfen hat. Rechts sehen Sie das Mansion House, in dem der Oberbürgermeister von Dublin residiert.«
Sämtliche gehörnten Wikingerhelme wenden sich nach rechts. Videokameras, Digicams und Handys werden durch die offenen Fenster gestreckt.
»Meinst du, das haben die Wikinger damals so gemacht, Dad? Ihre Kameras auf Gebäude gerichtet, die es damals noch gar nicht gab, und klick-klick gemacht?«, flüstere ich.
»Ach, sei still«, entgegnet er laut, und der Tourführer hält irritiert mitten im Satz inne.
»Nein, nicht Sie!«, beruhigt Dad ihn und wedelt mit der Hand. »Meine Tochter.« Er deutet auf mich, und der ganze Bus glotzt uns an.
»Rechts sehen Sie die St. Anne’s Church, die 1707 von Isaac Wells konzipiert wurde. Das Innere der Kirche stammt aus dem siebzehnten Jahrhundert«, fährt Olaf fort, an die dreißig Mann starke Wikingertruppe gewandt.
»Genau genommen wurde die romanische Fassade erst 1868 hinzugefügt, und die ist ein Werk von Thomas Newenham Deane«, flüstere ich Dad zu.
»Oh«, sagt Dad und macht große Augen. »Das hab ich nicht gewusst.«
Auch ich reiße die Augen
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