Ich hab dich im Gefühl
wieder aus.
»Ungefähr zwanzig Minuten, Dad. Ist das in Ordnung?«
Schweigen.
»Äh, Liebes, es ist bloß, dass du schon zwanzig Minuten da drin bist, und du weißt ja, wie das ist mit meiner Prostata …«
Den Rest höre ich nicht mehr, weil ich aus der Wanne steige, anmutig wie ein Piranha zur Futterzeit. Meine Füße quietschen auf den Fliesen, Wasser spritzt in alle Richtungen.
»Alles klar da drin, Shamu?« Dad lacht schallend, so witzig findet er es, mich mit dem Killerwal zu vergleichen.
Rasch hülle ich mich in ein Handtuch und mache die Tür auf.
»Ah, Willy ist also frei«, grinst er.
Ich verbeuge mich und strecke den Arm in Richtung Toilette. »Ihr Streitwagen erwartet Sie, Sir.«
Verlegen schlurft er hinein und schließt die Tür hinter sich. Ich höre, wie der Riegel vorgeschoben wird.
Nass und fröstelnd sehe ich mir die Halbliterflaschen mit Rotwein in der Minibar durch, hole eine heraus und betrachte das Etikett. Sofort habe ich ein Bild im Kopf, so deutlich, dass ich das Gefühl habe, mein Körper wäre an diesen Ort versetzt worden.
Ein Picknickkorb mit einer Weinflasche, ein identisches Etikett, eine rot-weiß karierte Decke auf dem Gras. Ein kleines blondes Mädchen tanzt und wirbelt umher. Auch der Wein wirbelt, wirbelt im Glas. Ihr Lachen. Vogelgezwitscher. Von fern Kinderstimmen, Hundegebell. Ich liege auf dem karierten Tuch, barfuß, die Hose über die Knöchel aufgerollt.
Behaarte
Knöchel. Die Sonne brennt heiß auf meine Haut, das kleine Mädchen tanzt und dreht sich vor der Sonne, blockiert das grelle Licht, wirbelt in eine andere Richtung, und nun sticht das gleißende Licht mir mit voller Wucht in die Augen. Eine Hand erscheint vor mir, hält mir ein Glas Rotwein entgegen. Ich schaue in das dazugehörige Gesicht. Rote Haare, Sommersprossen, ein liebevolles Lächeln. Für mich.
»Justin!«, ruft sie. »Hallo – Erde an Justin!«
Das kleine Mädchen lacht und dreht sich, der Wein wirbelt im Glas, die langen roten Haare wehen in der leisen Brise …
Plötzlich ist alles verschwunden. Ich bin wieder im Hotelzimmer, stehe vor der Minibar, und meine Haare tropfen auf den Teppich. Dad mustert mich neugierig, die Hände ausgestreckt, als wüsste er nicht, ob er mich berühren soll oder lieber nicht.
»Erde an Joyce!«, ruft er.
Ich räuspere mich. »Bist du fertig?«
Dad nickt, und seine Augen folgen mir ins Bad. An der Tür drehe ich mich um. »Übrigens habe ich für heute Abend Karten für eine Ballettaufführung reservieren lassen. In einer Stunde müssen wir los.«
»Okay, Liebes«, antwortet er und nickt. Dann sieht er mir mit seinem typischen besorgten Blick nach, während ich im Bad verschwinde. Ich kenne diesen Ausdruck schon aus Kindheitstagen, ich habe ihn als Erwachsene gesehen und unendliche Male zwischendurch. Es ist, als hätte ich zum ersten Mal die Stützräder von meinem Fahrrad abgemacht – und nun rennt er neben mir her, hält mich krampfhaft fest, voller Angst vor dem, was passieren wird, wenn er mich loslässt.
Vierundzwanzig
Schwer atmend hält Dad meinen Arm fest, während wir gemächlich zum Covent Garden schlendern. Mit der freien Hand klopfe ich meine Taschen nach seinen Herzpillen ab.
»Dad, auf dem Rückweg nehmen wir ein Taxi, das lasse ich mir nicht wieder ausreden.«
Dad bleibt stehen, starrt geradeaus und atmet.
»Alles in Ordnung? Ist es das Herz? Sollen wir uns hinsetzen? Ein bisschen ausruhen? Oder lieber ins Hotel zurück?«
»Halt den Mund und dreh dich um, Gracie. Schließlich kann mir nicht nur mein Herz den Atem rauben, weißt du.«
Ich folge seiner Aufforderung, und da steht das Royal Opera House vor mir, die Säulen für die Abendvorstellung angestrahlt. Ein roter Teppich führt zum Eingang, eine Menschenmenge strömt durch die Tür.
»Du musst dir ein bisschen Zeit lassen, Liebes«, sagt Dad, während er den Anblick in sich aufnimmt. »Stürz dich doch nicht immer gleich kopfüber auf alles, wie ein Stier aufs rote Tuch.«
Da ich die Plätze erst so spät reserviert habe, sitzen wir ganz oben in dem riesigen Saal. Natürlich eine eher ungünstige Perspektive, aber ich bin ja froh, dass wir überhaupt noch Karten bekommen haben. Die Sicht auf die Bühne ist nicht optimal, aber man kann sehr gut in die gegenüberliegenden Logen sehen. Mit Hilfe des Opernglases, das neben dem Sitz befestigt ist, beobachte ich interessiert die Menschen, die sich allmählich dort niederlassen. Keine Spur von meinem Amerikaner.
Erde an
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