Ich hab dich im Gefühl
Schmerz zu stillen. Und so gewann er ein unglaubliches Wissen und eine unglaubliche Weisheit. Den Rest seines Lebens brauchte er, wenn er mal nicht weiterwusste, nur den Daumen in den Mund zu stecken und daran zu lutschen, und schon konnte er über das Wissen verfügen.
Diese Geschichte erzählte Dad mir damals, als ich noch am Daumen lutschte und er so groß war wie eine Eiche. Damals, als Mums Gähnen sich anhörte wie ein Lied. Als wir alle noch zusammen waren. Als ich noch keine Ahnung hatte, dass es einmal anders sein würde. Als wir im Garten unter der Trauerweide saßen und miteinander plauderten. Dort versteckte ich mich gern, aber Dad fand mich immer. Damals, als nichts unmöglich war und ich ganz selbstverständlich davon ausging, dass wir drei für immer zusammenbleiben würden.
Jetzt beobachte ich den großen Lachs der Weisheit, wie er gegen den Strom schwimmt, hin und her wippend zwischen den Fußgängern, die ihm auf dem Gehweg entgegenkommen.
Da blickt Dad auf, sieht mich, streckt zwei Finger in die Höhe und geht weiter.
Ach je.
»Dad!«, rufe ich aus dem Fenster. »Komm, steig ein.«
Er ignoriert mich, hält eine Zigarette an die Lippen und inhaliert so lange und intensiv, dass seine Backen sich nach innen ziehen.
»Dad, sei doch nicht so. Steig ein, wir fahren ins Hotel.«
Aber er geht weiter, sieht starr geradeaus, so stur wie eh und je. Dieses Gesicht habe ich schon so oft gesehen – wenn er mit Mum gestritten hat, weil er ihrer Meinung nach zu lange und zu häufig im Pub war, bei Diskussionen im Monday Club über die politische Lage, im Restaurant, wenn ihm das Fleisch nicht zu einem Stück Holzkohle gebraten serviert wird, obwohl er es ausdrücklich so verlangt hat. Dieser rechthaberische Ausdruck, das Kinn trotzig nach vorn gereckt, wie die Küste von Cork und Kerry. Ein trotziges Kinn, ein verärgerter Kopf.
»Schau mal, wir müssen uns ja nicht mal unterhalten. Im Auto kannst du schon anfangen, mich zu ignorieren. Im Hotel sowieso. Wenn du dich dann besser fühlst, brauchst du die ganze Nacht nicht mit mir zu reden.«
»Das würde dir gefallen, was?«, schnaubt er.
»Soll ich ehrlich sein?«
Er schaut mich fragend an.
»Ja.«
Er bemüht sich, nicht zu lächeln. Kratzt sich mit seinen gelb verfärbten Zigarettenfingern im Mundwinkel, damit ich nicht sehe, wie sie nach oben zucken. Der Rauch steigt ihm in die Augen, und ich denke daran, wie gelb sie sind und wie strahlend blau sie waren, wenn ich als kleines Mädchen mit baumelnden Beinen, das Kinn in die Hand gestützt, am Küchentisch beobachtet habe, wie er ein Radio, einen Wecker oder einen Stecker auseinandermontiert hat. Durchdringende blaue Röntgenaugen, wachsam, geschäftig. Die Zigarette zwischen die Lippen geklemmt, seitlich herunterhängend wie bei Popeye, und der Rauch stieg auf und hat seine Augen gelb gefärbt. Die Farbe des Alters, wie altes vergilbtes Zeitungspapier, eingetaucht in Zeit.
Damals habe ich ihm zugesehen, wagte nicht zu sprechen, wagte kaum zu atmen, denn ich hatte Angst, den Bann zu brechen, mit dem er den Gegenstand belegt hatte, den er gerade reparierte. Wie der Chirurg, der ihn vor zehn Jahren am Herzen operiert und den Bypass gelegt hat, so saß er am Tisch, jung und gesund, verband Drähte miteinander und beseitigte Blockaden. Unter seinen aufgerollten Hemdsärmeln sah ich die von der Gartenarbeit gebräunten Armmuskeln, die sich im Rhythmus seiner flinken Finger bewegten. Immer war eine Spur von Schmutz unter seinen Fingernägeln. An der rechten Hand waren Zeigefinger und Mittelfinger gelb vom Nikotin. Gelb, aber ruhig und absolut zuverlässig. Ungleich, aber ruhig und zuverlässig.
Schließlich bleibt er doch stehen, wirft die Zigarette auf den Boden und tritt sie mit seinem wuchtigen Schuh aus. Das Taxi stoppt. Ich werfe ihm den Rettungsring zu, und wir ziehen ihn aus dem Strudel des Trotzes hinein ins Boot. Immer ein Draufgänger, immer ein Glückspilz. Wenn er ins Wasser fiel, kam er trocken wieder heraus, mit Fischen in der Tasche. Stumm sitzt er jetzt neben mir im Taxi. Und seine Klamotten, sein Atem und seine Finger stinken nach Rauch. Ich beiße mir auf die Lippen, sage nichts und mache mich darauf gefasst, mir den Daumen zu verbrennen.
Er stellt einen neuen persönlichen Rekord im Schweigen auf. Zehn, vielleicht sogar fünfzehn Minuten. Aber schließlich quellen doch Worte aus seinem Mund, als hätten sie schon ungeduldig hinter den geschlossenen Lippen Schlange gestanden. Wenn
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