Ich hab dich im Gefühl
oft mit Skepsis oder gar Zynismus betrachtet. Warum? Weil man in Krisenzeiten intensiver nach Antworten sucht als andere, und es sind genau diese Antworten, die einem am Ende weiterhelfen.
Diese Bluttransfusion – ist sie die Antwort, die ich suche? Ist sie überhaupt irgendeine Antwort? Meiner Erfahrung nach tauchen Antworten ganz von selbst auf. Sie verstecken sich nicht unter Steinen oder gut getarnt zwischen den Bäumen. Antworten sind einfach da, direkt vor unseren Augen. Aber wenn man keinen Grund hat, genauer hinzuschauen, findet man sie mit großer Wahrscheinlichkeit nie.
Deshalb spüre ich die Erklärung für die plötzlichen fremden Erinnerungen, den Grund für diese tiefe Verbindung mit Justin direkt durch meine Adern rinnen. Ist das die Antwort, die mir mein Herz zurzeit so dringlich zu verstehen geben will? Jetzt hüpft es auf und ab, wie Skippy, das Känguru, versucht, meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, mich auf ein Problem hinzuweisen. Langsam atme ich durch die Nase ein und wieder aus, schließe die Augen, lege die Hände auf meine Brust und fühle das Bum-bum, Bum-bum, das in mir tobt. Zeit, das Tempo zu drosseln. Zeit, in aller Ruhe nach den Antworten zu forschen.
Für einen Moment nehme ich das Groteske einfach als selbstverständlich, wie das Menschen in Schwierigkeiten oft tun: Wenn ich bei der Transfusion tatsächlich Justins Blut bekommen habe, dann pumpt mein Herz jetzt sein Blut durch meinen Körper. Ein Teil des Bluts, das einmal durch seine Adern geflossen ist, fließt jetzt durch meine und hilft, mich am Leben zu erhalten. Etwas, was von seinem Herzen kommt, etwas, was in ihm pulsiert hat, ist jetzt ein Teil von mir.
Zuerst schaudere ich bei dem Gedanken und bekomme eine Gänsehaut, aber dann denke ich noch mal darüber nach, kuschle mich ins Bett und schlinge die Arme um mich. Auf einmal fühle ich mich nicht mehr so einsam, auf einmal freue ich mich, dass ich in meinem Innern Gesellschaft habe. Ist das der Grund dafür, dass ich mich so mit ihm verbunden fühle? Dass etwas von ihm zu mir geflossen ist und mich nun in die Lage versetzt, auf seine Wellenlänge zu gehen und seine persönlichen Erinnerungen und Leidenschaften zu erleben?
Ich seufze müde. In meinem Leben ergibt nichts mehr einen Sinn, nicht erst seit dem Tag, als ich die Treppe hinuntergestürzt bin. Schon eine ganze Weile davor war ich dabei zu fallen. An diesem Tag … an diesem Tag bin ich gelandet. Es war der erste Tag vom Rest meines Lebens, und das habe ich aller Wahrscheinlichkeit nach Justin Hitchcock zu verdanken.
Heute war ein langer Tag. Der Schlamassel im Flughafen, die
Antiquitäten-Roadshow
, dann Beas Bemerkung im Royal Opera House. Eine Flutwelle von Gefühlen hat mich in den letzten vierundzwanzig Stunden überrollt, überwältigt und in die Tiefe gezogen. Als ich mich jetzt an die kostbaren Momente mit Dad erinnere, muss ich lächeln – vom Tee am Küchentisch bis zu unserem kleinen London-Abenteuer. Mit einem breiten Grinsen sehe ich zur Decke und schicke meinen Dank nach weiter oben.
Auf einmal höre ich aus der Dunkelheit ein Keuchen, kurze, angestrengte Japser.
»Dad?«, flüstere ich. »Alles in Ordnung?«
Das Keuchen wird lauter, und ich bekomme Angst.
»Dad?«
Dann ein Schnauben. Und plötzlich ein lautes Lachen.
»Michael Aspel«, stammelt er. »Herr des Himmels, Gracie!«
Mit einem erleichterten Lächeln höre ich ihm zu, wie er lacht, immer heftiger, bis er beinahe platzt vor Vergnügen, und schließlich steckt sein Lachen mich an, und ich fange auch an zu kichern. Das bringt ihn seinerseits noch mehr in Schwung, und je mehr er lacht, desto mehr muss ich lachen. Unerbittlich schaukelt sich unser Lachen gegenseitig hoch. Unter mir quietscht die Matratze, und wir lachen noch lauter. Die Erinnerung an den Schirmständer, an die Livesendung mit Michael Aspel, an die Gruppe, die vor der Kamera »Tschaikowski!« brüllt – bei jeder Szene, die uns durch den Kopf geht, schüttelt der Lachkrampf uns heftiger.
»Oh, mein Bauch!«, heult Dad.
Ich rolle auf die Seite und krümme mich vor Lachen.
Dad keucht weiter und schlägt mit der Hand immer wieder auf das Nachttischchen, das zwischen uns steht. Ich versuche mich zu fassen, mein Bauch tut weh, aber gleichzeitig macht das alles es nur noch komischer. Wie soll ich aufhören, wenn Dad so wiehert? Ich glaube, ich habe ihn überhaupt noch nie so viel und so herzlich lachen hören. In dem blassen Licht, das neben ihm durchs
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