Ich habe den Todesengel überlebt - Mozes Kor, E: Ich habe den Todesengel überlebt
konnte uns nicht wie früher helfen. Sie saß auf dem Boden und schüttelte immer wieder den Kopf. »Das ist alles meine Schuld«, sagte sie. »Wir hätten nach Palästina gehen sollen.« Ihre Augen waren eingesunken durch die Krankheit und von dunklen Ringen umgeben durch den Schlafmangel; sie verrieten, wie sehr sie verfolgt wurde von ihrer Entscheidung, nicht mit Onkel Aaron nach Palästina zu fliehen, als noch die Gelegenheit dazu bestand. Jetzt, gefangen im Elend und den Entbehrungen des Gettos, zog sie sich zunehmend in sich selbst zurück und wurde immer niedergeschlagener.
Eines Morgens im Mai 1944 sagten uns deutsche Wachleute, wir würden in ein Arbeitslager geschickt, das ihren Worten zufolge in Ungarn lag. »Es geschieht zu eurem eigenen Schutz. Wenn ihr arbeitet, bleibt ihr am Leben«, sagten sie. »Eure Familien bleiben zusammen.« Wir hatten Gerüchte unter den erwachsenen Gettobewohnern zirkulieren hören, denen zufolge die Juden, die man nach Deutschland verschickte, umgebracht wurden. Wir glaubten also, wenn wir in Ungarn blieben, würden wir davonkommen und wären sicher.
Die Wachleute sagten uns, wir sollten unsere Habseligkeiten dalassen, alles, was wir brauchten, sei im Arbeitslager vorhanden. Trotzdem nahmen Mama und unsere großen Schwestern ein paar Wertgegenstände aus unserem Zelt mit. Papa trug sein Gebetbuch bei sich. Miriam und ich zogen unsere gleich geschnittenen weinroten Kleider an.
Die Wachen verfrachteten uns zu den Zuggleisen und trieben uns in Viehwaggons, sie schoben und stießen, bis ein Waggon mit achtzig oder hundert Leuten gefüllt war. Sie machten Papa zum Verantwortlichen für unseren Waggon. Man teilte ihm mit, er werde erschossen, falls irgendjemand floh. Die Türen wurden zugeworfen und mit einer Metallstange verriegelt, die in zwei Halterungen geschoben wurde. Stacheldraht versperrte vier kleine Fenster hoch oben, zwei auf jeder Seite. Wie sollte da jemand fliehen?
Miriam und ich drängten uns wie so oft eng aneinander. Es war kein Platz zum Sitzen oder Liegen vorhanden, auch nicht für Kinder wie uns. Obwohl ich noch ein kleines Mädchen war, spürte ich, dass etwas Schlimmes im Gang war. Allein die Machtlosigkeit unserer Eltern zu erkennen, die ich immer als unsere Beschützer gesehen hatte und die nun nicht mehr in der Lage waren, unsere Familie zu beschützen, allein dies zerstörte grundlegend jedes Gefühl von Sicherheit, das ich jemals gehabt hatte.
Tagelang fuhr unser Zug über die Gleise, das endlos ratternde Geräusch nur gelegentlich unterbrochen vom Tuten der Zugsirene. Wir hatten nicht nur keinen Platz zum Sitzen oder Liegen, wir hatten kein Essen, kein Wasser und keine Toiletten. Ich erinnere mich, dass ich sehr durstig war, mein Mund war verklebt und trocken.
Als der Zug am ersten Tag zum Tanken hielt, bat Papa den Streckenposten um Wasser. Der Posten verlangte fünf goldene Uhren als Gegenleistung. Die Erwachsenen sammelten die Uhren ein und übergaben sie ihm. Danach schleuderte der Posten einen Eimervoll Wasser zu dem stacheldrahtbewehrten Fenster hoch. Das Wasser spritzte sinnlos in die Gegend. Nach meiner Erinnerung bekam ich nichts davon ab. Vielleicht ein oder zwei Tropfen, aber das stillte meinen Durst nicht ansatzweise. Am zweiten Tag hielt der Zug erneut, und die Sache mit dem Wasser wiederholte sich.
Am Ende des dritten Tages hielt der Viehwaggon erneut, und Papa bat auf Ungarisch einen Posten um Wasser. Jemand antwortete auf Deutsch: » Was? Was? « Er hatte Papa nicht verstanden.
Da wurde uns schlagartig klar: Wir waren nicht mehr in Ungarn. Wir hatten die Grenze zu Polen, jetzt deutsches Gebiet, überquert.
Blankes Entsetzen ergriff uns. Bis zu diesem Moment hatte es noch immer Hoffnung gegeben. Wir alle, auch ich, waren uns im Klaren darüber gewesen: Solange wir in Ungarn blieben, bestand eine gewisse Chance, dass wir in einem Arbeitslager zur Arbeit geschickt wurden. Inzwischen wusste jeder, dass die Deutschen und Deutschland für Juden den Tod bedeuteten. Viele Menschen begannen zu beten. Der Viehwaggon füllte sich mit den Lauten von Erwachsenen, die mit Mühe ihr Weinen unterdrückten, und von Kindern, die sich durch die offenkundige Verzweiflung anstecken ließen. Hier und da versuchte jemand, das Schma zu singen, das hebräische Gebet zu Gott, auf dass er uns hören, uns retten möge.
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Miriam und ich blieben stumm, als er Fahrt aufnahm und immer schneller wurde. Wir waren seit drei
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