Ich habe mich verträumt
zerstören ließen. Oder auch nicht.
Ich sah über den Tisch zu Natalie. Sie trug ein blassblaues Kleid und hatte ihr glattes, honigfarbenes Haar am Hinterkopf zusammengedreht und mit einer Spange befestigt, die mein eigenes Haar verschlingen würde wie eine Venusfliegenfalle. Sie sah überglücklich aus. Als sie sich ein Stück Brot nehmen wollte, streifte sie aus Versehen Andrews Hand und wurde rot. Hach! Sie bemerkte meinen Blick, und ich lächelte meiner hübschen Schwester zu. Sie lächelte zurück.
„Grace, wo ist Callahan?“, fragte sie dann plötzlich und drehte den Kopf, um nach ihm zu suchen. „Kommt er noch nach?“
Mist. Tatsache war, dass ich gehofft hatte, nicht groß darüber reden zu müssen. Dass wir uns getrennt hatten, wusste nur Margaret. Das hatte zwei Gründe. Erstens hoffte ich immer noch, Cal würde erkennen, dass er ohne mich nicht leben konnte, und mir verzeihen. Und zweitens wollte ich Nattie nicht den Abend verderben. Sie würde sich um mich sorgen und mich bedauern, weil schon wieder jemand nicht mehr mit mir zusammen sein wollte, genau wie Andrew.
Zum Glück hatte ich gerade eine Auster im Mund, also grinste ich nur, zeigte auf meinen Mund und kaute. Und kaute. Undkaute noch ein bisschen länger, bis die Auster ein salziger, fast flüssiger Brei war.
„Wer ist Callahan?“, erkundigte sich Mrs Carson und sah mich mit durchdringendem Blick an.
„Grace hat einen wunderbaren neuen Freund“, verkündete Mom laut.
„Einen ehemaligen Häftling“, sagte Mémé und rülpste. „Einen irischen Verbrecher mit großen Händen. Stimmt’s, Grace?“
Mr Carson verschluckte sich, und Mrs Carson machte große Augen. „Tja“, begann ich.
„Er war mal Finanzbuchhalter“, sagte mein Vater fröhlich. „Hat an der Tulane studiert.“
Margaret seufzte.
„Ich denke, er ist Handwerker, Grace!“, bellte Mémé. „Gärtner oder Holzfäller oder so etwas – ich kann mich nicht mehr erinnern.“
„Oder Minenarbeiter. Oder Schäfer“, fügte Margaret hinzu, sodass ich prustend auflachte.
„Er ist ein sehr netter Mann“, versicherte Mom, die sowohl ihre älteste Tochter als auch Callahans kriminelle Vergangenheit ignorierte. „Und er sieht sehr gut aus.“
„Ja, das tut er!“, bestätigte Natalie und wandte sich an die Carsons. „Er und Grace geben ein wundervolles Paar ab. Man sieht sofort, dass sie verrückt nacheinander sind.“
„Er hat Schluss gemacht“, verkündete ich ruhig, nachdem ich mir den Mund abgewischt hatte. Margaret verschluckte sich an ihrem Wein. Während sie in ihre Serviette hustete, gab sie mir das Daumen-hoch-Zeichen.
„Der Gärtner hat dich abserviert? Wie? Was hat er gesagt?“, wollte Mémé wissen. „Warum nuschelst du so, Grace?“
„Callahan hat Schluss gemacht, Mémé“, sagte ich laut. „Er fand, ich müsse in puncto Aufrichtigkeit an mir arbeiten.“
„Das hat der Verbrecher gesagt?“, krächzte Mémé.
„Mistkerl!“, entrüstete sich meine Mutter. Sonst sagte nie mand etwas. Natalie sah aus, als hätte ich ihr eins übergebraten.
„Danke, Mom“, entgegnete ich. „Aber leider muss ich sagen, dass er recht hatte.“
„Ach, Gracie-Schnups, nein! Du bist wundervoll“, sagte Dad. „Was weiß der denn schon? Er ist ein Idiot. Ein Exhäftling und ein Idiot.“
„Ein Exhäftling?“, keuchte Mr Carson.
„Nein, ist er nicht, Dad. Er ist kein Idiot, meine ich. Ein Exhäftling ist er schon, Mr Carson“, stellte ich klar.
„Tja“, meinte Mom, während sie zwischen den Carsons und mir hin und her sah, „denkst du denn, du könntest wieder mit deinem Kinderchirurgen zusammenkommen? Das war doch so ein netter junger Mann!“
Wow! Erstaunlich, wie viel Macht eine Lüge haben konnte! Ich sah zu Margaret. Sie erwiderte meinen Blick und hob eine Braue. Ich drehte mich wieder zu meiner Mutter.
„Es gab keinen Kinderchirurgen, Mom“, erklärte ich laut und deutlich, damit auch Mémé es hören konnte. „Ich habe ihn erfunden.“
Kaum zu glauben, aber es machte fast Spaß, diese Bombe platzen zu lassen. Fast. Margaret lehnte sich mit breitem Grinsen zurück. „Erzähl weiter, Grace“, sagte sie, und zum ersten Mal seit langer Zeit sah sie richtig glücklich aus.
Ich setzte mich gerade hin, obwohl mein Herz so heftig klopfte, dass ich Angst hatte, ich müsste mich übergeben. Mir zitterte die Stimme … aber ich sprach tapfer weiter. „Ich habe so getan, als wäre ich mit jemandem zusammen, damit Natalie und Andrew sich nicht
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