Ich habe mich verträumt
war. Vielleicht sollte ich meinen Dad informieren – er war Anwalt. Für Steuerrecht zwar, aber trotzdem. Margaret war Strafverteidigerin. Vielleicht wäre sie die bessere Wahl.
Mist, verdammt. Ich wünschte, ich hätte den Typen nicht geschlagen. Tja. Unfälle passieren. Immerhin war er mitten in der Nacht ums Haus geschlichen, oder? Was erwartete er? Dass ich ihn auf einen Kaffee hereinbat? Außerdem … vielleicht hatte er gelogen. Vielleicht war „Ich wohne nebenan“ nur ein Täuschungsmanöver gewesen. Vielleicht hatte ich der Gesellschaft einen Dienst erwiesen. Trotzdem war es neu für mich, jemanden zu schlagen. Ich hoffte sehr, der Typ war nicht allzu stark verletzt. Oder sauer.
Der Anblick meines Kleides, das ich im Trubel der letzten Nacht nicht ordentlich aufgehängt hatte, erinnerte mich an Kittys Hochzeit. An Andrew und Natalie … zusammen. An Wyatt, meinen erfundenen neuen festen Freund. Ich lächelte. Schon wieder ein ausgedachter Freund. Ich hatte es erneut gewagt.
Möglicherweise haben Sie den Eindruck bekommen, dass Natalie … nun, nicht unbedingt verzogen, aber vielleicht überbehütet war. Damit hätten Sie recht. Sie wurde von unseren Eltern, von Margs – die mit ihrer Liebe sonst eher zurückhaltend umging – und auch von Mémé geradezu vergöttert. Besonders aber von mir. Tatsächlich hatte ich die erste klare Erinnerung meines Lebens an Natalie. Es war mein vierter Geburtstag gewesen und Mémé war da, um auf uns aufzupassen. Sie rauchtein unserer Küche eine Zigarette. Im Ofen garte mein Geburtstagskuchen, und der warme Duft von Vanille mischte sich nicht unangenehm mit dem Rauch ihrer Kool Lights.
Die Küche meiner Kindheit war ein riesiger Ort voll wunderbarer, unerwarteter Schätze, aber mein Lieblingsplatz war die Vorratskammer, eine lange, dunkle Abseite mit Regalen vom Boden bis zur Decke. Oft ging ich hinein, schloss hinter mir die Tür und naschte in andächtigem Schweigen Schokoladenstreusel aus der Tüte. Es war wie ein kleines Haus in sich, komplett mit Selterswasser und Hundefutter. Marny, unsere Cockerspanieldame, leistete mir Gesellschaft und wedelte mit ihrem Stummelschwanz, während ich ihr Trockenfutter verabreichte, von dem ich selbst hin und wieder ein Stück aß. Manchmal machte Mom die Tür auf und schrie entgeistert auf, wenn sie mich und den Hund zusammengekuschelt neben dem Mixer fand. Ich fühlte mich dort drin immer sicher.
Jedenfalls war es mein vierter Geburtstag, Mémé rauchte, und ich saß mit Marny in der Vorratskammer und teilte mir mit ihr eine Schachtel Frühstückskringel, als ich hörte, wie die Hintertür geöffnet wurde. Mom und Dad kamen herein, und es ertönte geschäftiges Geraschel … Mommy war ein paar Tage weg gewesen und nun rief sie meinen Namen.
„Gracie, wo bist du? Alles Gute zum Geburtstag, mein Schatz! Hier ist jemand, der dich kennenlernen will!“
„Wo ist das Geburtstagskind?“, ertönte auch Dads laute Stimme. „Will sie denn gar nicht ihr Geschenk haben?“
Plötzlich verspürte ich Sehnsucht nach meiner Mutter, die ich so lange vermisst hatte, und polterte aus der Abseite, vorbei an Mémés dünnen, krampfaderigen Beinen, auf meine Mutter zu, die – immer noch im Mantel – am Küchentisch saß. Sie hielt ein Baby im Arm, das in eine weiche rosa Decke gewickelt war.
„Mein Geburtstagsgeschenk!“, rief ich begeistert.
Zwar erklärten mir die Erwachsenen, dass das Baby nicht nur für mich da sei, sondern auch für Margaret und alle anderen, und dass mein Geschenk tatsächlich ein Plüschtier sei, ein großer Hund. (Die Familiengeschichte besagt, dass ich denHund kurze Zeit später in die Babykrippe stopfte und so meine Eltern mit meiner Großzügigkeit beeindruckte.) Doch ich kam nie über das Gefühl hinweg, dass Natalie Rose eigentlich mir gehörte – auf jeden Fall mehr als Margaret, die dieses Gefühl als altkluge Siebenjährige gut für sich zu nutzen wusste, um ihren schwesterlichen Pflichten zu entgehen. „Grace, dein Baby braucht dich“, rief sie immer, wenn Mom uns beim Füttern oder Windelwechseln um Hilfe bat. Mir machte das nichts aus. Ich genoss das Gefühl, die besondere Schwester zu sein, die große Schwester – nach vier langen Jahren, die ich von Margaret herumkommandiert oder ignoriert worden war. Mein Geburtstag wurde mehr und mehr zu einem gemeinsamen Tag von Natalie und mir – zur Feier unseres gemeinsamen Lebens – als dass es um den Beginn meines eigenen Lebens gegangen wäre. Mein
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