Ich habe mich verträumt
vergingen die Stunden. Kaffeebecher wurden gebracht und weggetragen, Natalies Infusionsbeutel wurden gewechselt, ihre Wunde kontrolliert. Ein Tag verstrich. Sie wachte nicht auf. Eine Nacht. Ein weiterer Tag. Es ging ihr schlechter. Wir durften nur wenige Minuten am Stück zu ihr und wurden dann wieder in ein düsteres Wartezimmer mit alten Zeitschriften und farblosen Möbeln geschickt, in dem ein Neonlicht brannte, das kein Detail unserer angsterfüllten Gesichter unbeleuchtet ließ.
Am vierten Tag kam eine Krankenschwester ins Zimmer gestürmt. „Die Familie von Natalie Emerson, bitte mitkommen!“, befahl sie.
„Oh Gott“, stöhnte meine Mutter, das Gesicht kalkweiß. Sie stolperte, mein Vater fing sie auf und zog sie halb durch den Flur. Voller Panik, dass unsere kleine Schwester sterben müsste, rannten Margaret und ich vorneweg. Es schien ein Jahr zu dauern, bis wir den Flur durchquert hatten – jeder Schritt,jedes Klatschen meiner Turnschuhsohlen, jeder Atemzug wurde von einem verzweifelten Gebet begleitet. Bitte. Bitte. Nicht Natalie. Bitte .
Ich war als Erste da. Meine kleine Schwester, mein Geburtstagsgeschenk, war wach und sah uns zum ersten Mal seit Tagen mit zaghaftem Lächeln an. Hinter mir stürzte Margaret ins Zimmer.
„Heiliger gekreuzigter Strohsack, Natalie!“, brach es in typischer Weise aus ihr heraus. „Wir dachten, du wärst tot!“ Sie machte kehrt und rannte zu der Krankenschwester zurück, die jedem von uns zehn Jahre unseres Lebens geraubt hatte.
„Nattie“, flüsterte ich. Sie streckte ihre Hand nach mir aus, und Sie können sicher sein, dass ich in diesem Moment versprach, jeden Augenblick meines Lebens meine Dankbarkeit für ihre Rettung zu zeigen.
„Du hast was getan?“, fragte Julian nach. Wir spazierten durch die kleine Innenstadt von Peterston, aßen Aprikosenplunder aus Lala’s Bakery und schlürften Cappuccino. Ich hatte meinen Freund bereits mit der Geschichte erheitert, wie ich den neuen Nachbarn zusammengeschlagen hatte, und damit seinen Bericht über sein erstes selbst gekochtes Chicken Tikka Masala um Längen übertroffen.
„Ich habe ihr gesagt, ich sei fest liiert. Mit Wyatt, einem Kinderchirurgen.“ Ich nahm einen weiteren Bissen des noch warmen Plundergebäcks und stöhnte vor Genuss.
Julian blieb stehen und sah mich bewundernd an. „Wow.“
„Ja, brillant, findest du nicht?“
„Doch, das finde ich“, erwiderte er. „Du bist nicht nur wirkungsvoll gegen Kriminalität in deiner Nachbarschaft vorgegangen, du hast auch einen neuen Freund erfunden. Ein arbeitsreicher Abend!“
„Ich wünschte nur, ich hätte schon früher daran gedacht.“
Julian grinste, bückte sich, um Angus ein Stück Kuchen zu geben, und ging weiter, nur um wenige Schritte später vor seinem Unternehmen erneut stehen zu bleiben. Seine Tanzschule Jitterbug Dance Hall befand sich zwischen einer Reinigung und Mario’s Pizza . Er spähte durchs Fenster, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Eine Frau, die hinter uns vorbeiging, warf einen kurzen Blick auf Julian, ging weiter und blieb dann abrupt stehen, um sich noch einmal umzusehen. Ich musste schmunzeln. Mein ältester Freund, der bei unserer ersten Begegnung noch ein dicklicher Außenseiter gewesen war, ähnelte jetzt einem frisch rasierten Johnny Depp, und die Reaktion dieser Frau war typisch. Wäre er nicht schwul gewesen, hätte ich ihn längst geheiratet und seine Kinder zur Welt gebracht. Wie ich war auch Julian in Liebesdingen enttäuscht worden, wobei selbst ich als seine älteste Freundin nicht genau wusste, was damals vorgefallen war.
„Dann bist du jetzt also Wyatts Mädchen“, sagte er und nahm unseren Spaziergang wieder auf. „Wie heißt er mit Nachnamen?“
„Keine Ahnung. Den habe ich noch nicht erfunden.“
„Tja, worauf wartest du?“ Julian überlegte kurz. „Dunn. Wyatt Dunn.“
„Wyatt Dunn, Kinderchirurg. Wunderbar“, sagte ich.
Julian drehte sich um und lächelte die Frau hinter uns charmant an. Sie wurde rot und gab vor, etwas verloren zu haben, weshalb sie sich bücken musste. Auch das passierte immer wieder. „Und wie sieht Dr. Wyatt Dunn aus?“, fragte er weiter.
„Also, er ist nicht so wahnsinnig groß … Größe wird irgendwie überschätzt, findest du nicht?“ Julian schmunzelte, er war eins achtundsiebzig. „Ein bisschen schlaksig. Grübchen. Nicht zu gut aussehend, aber mit einem freundlichen Gesicht. Grüne Augen, blonde Haare. Und eine Brille, oder was
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