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Ich habe mich verträumt

Ich habe mich verträumt

Titel: Ich habe mich verträumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristan Higgins
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Geburtstag war wichtiger geworden, weil es der Tag war, an dem ich Natalie bekommen hatte.
    Und Natalie war und blieb die reinste Freude. Als Baby war sie schon eine Augenweide, und beim Heranwachsen wurde sie immer hübscher. Sie bekam lange blonde Haare, himmelblaue Augen, Wangen, so weich wie Tulpenblüten, Wimpern, so lang, dass sie ihre seidigen Brauen berührten. Ihr erstes Wort war „Gissy“, und wir alle wussten, dass sie mich damit meinte.
    Während sie größer wurde, sah sie zu mir auf. Margaret war trotz ihrer Launenhaftigkeit und bisweilen verächtlichen Haltung eine gute Schwester, aber eher in der Art, dass sie einen beiseite nahm und erklärte, wie man sich Ärger ersparte oder warum man ihre Sachen in Ruhe lassen sollte. Zum Spielen, zum Kuscheln und einfach zur Gesellschaft kam Nat zu mir, und ich war nur allzu bereit. Mit vier verbrachte sie Stunden damit, Klammern in meine widerspenstig krausen Haare zu klemmen, und wünschte sich laut, ihr seidig glattes Blondhaar wäre auch so eine – mit ihren Worten – „schöne braune Wolke“. Im Kindergarten nahm sie mich mit, als jedes Kind sein liebstes Spielzeug vorstellen sollte, und Sie können sich bestimmt denken, wer sie am „Besondere Leute“-Tag begleiten musste. Wenn sie Hilfe beim Buchstabieren brauchte, kam sie zu mir,und ich dachte mir lustige Sätze aus, damit es Spaß machte. Bei ihren Ballettvorführungen suchte sie mich unter den Zuschauern mit den Augen, und ich strahlte sie an. Ich nannte sie Natty Bumppo, nach dem Helden aus Der Wildtöter , und deutete beim Vorlesen immer auf den Namen, um ihr zu zeigen, wie berühmt sie war.
    So verging unsere Kindheit – Natalie war perfekt, ich bewunderte sie, Mags maulte und stand ein wenig über den Dingen. Dann, als Natalie siebzehn war und ich in meinem vorletzten Jahr am College of William & Mary, bekam ich von zu Hause einen Anruf. Natalie hatte sich schon am Vortag schlecht gefühlt, aber da es nicht ihre Art war zu jammern, zunächst nichts gesagt. Irgendwann erwähnte sie beiläufig, dass ihr Bauch furchtbar wehtue, und Mom rief sofort den Arzt. Noch bevor sie das Krankenhaus erreichten, gab es einen Blinddarmdurchbruch. Die folgende Operation war kompliziert, da die Bakterien bereits in den Bauchraum vorgedrungen waren, und sie bekam eine Bauchfellentzündung mit hohem Fieber, das nicht sinken wollte.
    Als Mom anrief, saß ich gerade im Wohnheim des Colleges, neun Stunden Autofahrt entfernt. „Komm so schnell du kannst“, befahl Mom. Nat war auf die Intensivstation verlegt worden und es stand nicht gut um sie.
    Meine Erinnerungen an die Heimfahrt variieren zwischen „stundenlanges Grauen“ und „komplett ausgeblendet“. Ein Professor brachte mich zum Flughafen in Richmond. Ich weiß nicht mehr, wer es war, aber ich sehe das staubige Armaturenbrett seines Wagens noch so deutlich vor mir, als würde ich in genau diesem Moment auf dem heißen Vinylsitz neben ihm kauern. Die Windschutzscheibe hatte einen Riss, der die Scheibe von oben nach unten in zwei Bereiche teilte wie der Mississippi die Vereinigten Staaten. Ich weiß noch, dass ich am Flugsteig weinend in der Plastiksitzschale saß und dass ich die Fäuste ballte, als das Flugzeug quälend langsam über das Rollfeld kroch. Ich erinnere mich an das Gesicht meines Freundes Julian, dessen Augen bei meiner Ankunft am Flughafen vorAngst und Mitgefühl weit aufgerissen waren. An meine Mutter, wie sie vor Natalies Zimmer im Krankenhaus schwankte, an meinen Vater, graugesichtig und stumm, und an Margaret, zusammengekrümmt in der Ecke neben dem Vorhang, der Natalie vom benachbarten Patienten trennte.
    Und ich erinnere mich an Natalie, wie sie im Bett lag, über und über mit Schläuchen bedeckt. Sie wirkte so klein und einsam, dass es mir das Herz brach. Ich nahm ihre Hand und küsste sie, und meine Tränen fielen auf das Laken. „Ich bin da, Natty Bumppo“, flüsterte ich. „Ich bin da.“ Sie war zu schwach, um zu antworten, zu krank, um die Augen zu öffnen.
    Draußen redete der Arzt mit sonorer Stimme mit meinen Eltern. „… Abszess … Bakterien … Nierenfunktion … Leukozytenzahl … zu schwach.“
    „Lieber Gott im Himmel“, flüsterte Margaret aus ihrer Ecke. „Scheiße, Grace.“ Unsere Blicke trafen sich und drückten das blanke Entsetzen über die Möglichkeit aus, die wir uns nicht vorzustellen wagten. Unsere goldene Natalie, das süßeste, liebste, wunderbarste Kind der Welt … rang mit dem Tod?
    Zäh

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