Ich haette dich geliebt
Leute lebten so weiter, wie bisher. So wie ich. Ich ging zu einem Spielplatz. Zwei Mütter saßen auf der Bank und rauchten. Die anscheinend dazugehörigen Kinder, drei an der Zahl, spielten auf einem hässlichen Klettergerüst, das aussehen sollte wie ein Schiff.
Ich stellte mich vor und fragte, ob sie etwas zu dem Fall mit dem toten Mädchen sagen wollten. Die Frauen schauten sich an und gackerten. Das passierte meistens. Die Leute hatten zu allem eine Meinung. Aber wehe ein Mikrophon ...
Sie sagten dann aber doch zwei, drei Sätze. Sie könnten nicht verstehen, wie man das seinem Kind antun könne. Und das Jugendamt tauge an der Wurzel nichts. Und Und Und.
Ich hatte nichts anderes erwartet. Ich bedankte mich und fragte mich, ob ich etwas sagen sollte. Zum Beispiel, dass die Eltern vielleicht auch Schwierigkeiten hatten, dass sie hilflos waren und jetzt die schwerste Last überhaupt trugen. Die Last, schuld am Tod ihrer eigenen Tochter zu sein. Aber das war alles sinnlos. Die Leute leben besser mit ihren Urteilen.
Ich bekam eine derart schlechte Laune. Das alles deprimierte mich. Das Kind tat mir leid. Natürlich. Aber die Eltern auch. Ich hatte die Mutter in einer dieser Boulevard-Fernsehsendungen gesehen. Sie hatte geweint und sah selbst aus wie ein Kind. So verloren. Ihre Tränen erschütterten mich, denn sie ließen erahnen, wie hilflos sie dem Leben gegenüberstand.
Überall Urteile. Vielleicht wären wir eine Familie geworden, gäbe es nicht die Angst, dauernd beurteilt zu werden. Ich verspürte einen derartigen Hass auf die Menschheit, dass ich selbst erschrak.
Als ich gerade mein Auto in eine kleine Lücke vor dem Haus parken wollte, sah ich im Rückspiegel, dass mich jemand mit Hilfe wüster Handbewegungen navigieren wollte. Ich konnte zwar nur den Teil zwischen Knie und Brust sehen, wusste aber, dass Kai derjenige war, der mir da helfen wollte.
Obwohl ich kurz zusammenzuckte, schaffte ich es diesmal einen ganzen Satz zu formulieren.
„Was machst du denn hier?“
„Mir ist was eingefallen, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Bei den Chordings-da. Du weißt schon. Ich hatte mir mal ein Buch geliehen. Deine Mutter hat es dir geschenkt, weißt du noch?“
Er hielt mir ein Buch hin, an das ich mich nicht mehr erinnern konnte.
„Danke. Tut mir leid, dass ich mich letztens so unmöglich benommen habe. Waren aufwühlende Tage.“
„Ja. Das dachte ich mir. Deshalb bin ich auch eigentlich gekommen. Ich fand es blöd, dass wir so gar nicht mehr miteinander sprechen. Anfangs war es auch wegen Nora. Sie war eifersüchtig auf dich, aber jetzt ist das in Ordnung.“
Ich verstand nur Bahnhof. Nora? Was war das hier für ein Auftritt? Was gab es hier eigentlich noch zu sagen?
„Ich muss weg. Bin verabredet. Danke für das Buch. Wir hören uns dann, ja?“
Ich tat geschäftig, und Kai gab mir die Hand. Er schien ehrlich verwirrt, als er wieder davontrabte. Vor ein paar Tagen hätte mir dieser Name, Nora, ein Loch in den Brustkorb gerammt. Ich war erstaunt, dass es mir nichts ausmachte. Bis auf den Ärger, über diese läppisch-beiläufige Erklärung, dass er nicht mehr zu haben ist, aber er trotzdem bereit war, sich mit mir abzugeben.
Ich musste lachen und daran denken, wie ich mir noch vor einer Woche die Augen ausgeheult hatte.
In der Wohnung nahm ich das Foto von Louis beim Stadtfest und betrachtete es. Er lachte mit dem ganzen Gesicht. Alles an ihm war geschwungen. Die Falten um die Nase. Die Augenbrauen. Die Lippen und sogar der Haaransatz. Ich konnte den jungen Louis sehen. Er war noch da. Und ich konnte verstehen, dass meine Mutter sich in ihn verliebt hatte, denn sein Gesicht war eine einzige Welle.
Die letzten beiden Seiten des Briefes lagen vor mir. Immer wieder hatte ich Angst weiterzulesen. Würde ich mit dem Ende zurechtkommen? Da war noch etwas ... ich konnte es spüren. Das Gefühl der ungnädigen Schmetterlinge kam zurück. Das Gleiche hatte ich empfunden, als ich den Brief vor einer Woche bekommen hatte. Als ich die erste Zeile las, wusste ich, dass meine empfindlichen Antennen mich nicht getäuscht hatten.
Einen Tag, bevor sie Emma fanden, teilte mir Marlene mit, dass sie schwanger sei.
Es war ein Wunder. Eine Frau mit fünfundvierzig schwanger – das galt damals als Sensation. Es gab Befürchtungen, dass das Kind, also du, krank sein würde. Eine Abtreibung war für uns beide keine Option. Marlene und ich beschlossen, die Stadt zu verlassen und aufs Land zu ziehen. Mit
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